Leiden am Kleinbürgermief

Vorwärts

Wolfgang Niedecken im Gespräch

„Ich habe Schwein gehabt und bin in eine Sache reingestolpert, wo ich nur mit dem mein Geld verdiene, was sowieso aus mir rauskommt.“ Wolfgang Niedecken kann zufrieden sein: Egal, ob er das, was „aus ihm rauskommt“, in Lieder seiner Gruppe BAP umsetzt, ob er Bilder malt oder neuerdings unabhängig von BAP eigene Sängerwege beschreitet — das Publikum dankt es ihm und läßt ihn gut sie davon leben.

Es hätte auch anders kommen können: Der Kunststudent wäre dann vielleicht darauf angewiesen gewesen, in einem Grafikbetrieb zu arbeiten. „Ich hätte nie Karriere gemacht in so einem Laden. Ich hätte immer nur kleine Wetterkarten buntmalen können.“

Die heutige Wohnung in der Kölner Südstadt, an die ihn eine Haßliebe bindet, kostet vielleicht dreimal soviel wie die alte. Sie ist mit gediegener Ledergarnitur und gutem Mo-biliar eingerichtet, die Wände werden von Goldenen Schallplatten geziert.

Köln: Das ist ein Gemisch aus katholischer Kirche, parteiübergreifendem Klüngel und Karneval. Die radikale Absage an diesen Sumpf, der die Jugend Niedeckens prägte, durchzieht seine Lieder genauso wie die Unmöglichkeit, von den frühen Erfahrungen Ioszukommen.

Die Bibelverse in seinen Liedern sind Legion. Auf seinen antiklerikalen Song „Wenn et Bedde sich lohnen dät“ (Wenn das Beten sich lohnen würde) bekommt er heute noch Briefe: „Einer kam von einem Pfarrer, der anscheinend sehr progressiv ist, und der meinte festgestellt zu haben, daß dieses Stück selber schon wieder ein Psalm ist — womit er nicht Unrecht hat.“

Sein Leiden am Kleinbürgermief und an Brokatdeckchen, am erzwungenen Bürstenhaarschnitt ließen ihn in vielen Liedern den Spießer als Hauptgegner hinstellen — zur Gaudi des Szene-Publikums, das schon durch ein hingeworfenes „Dalli-Dalli “ aus dem Häuschen zu bringen war. „Das war teilweise sogar opportunistisch, weil das Publikum, für das wir gespielt haben, das gerne hörte“, meint er heute selbstkritisch.

Aus der verschworenen Fan-Szene ist längst ein Massenpublikum geworden, bei dem sich der BAP-Aufkleber auf dem Auto mit dem Playboyhasen verträgt. Der Erfolg führte zu Fraktionierungen in der Band: Auf der einen Seite der Gitarrist Klaus „Major“ Heuser, der die Musik immer mehr an der internationalen Popszene orientierte. Auf der anderen Seite Wolfgang Niedecken, der mit seinen Texten und Liedern immer weniger zur Geltung kam. Der drohende Krach wurde abgewendet. Man beschloß, BAP für mindestens eineinhalb Jahre auf Eis zu legen.

Jetzt also „Wolfgang Niedecken & Complizen“. Mit „seiner“ BAP-Fraktion und einigen befreundeten Musikern hat er sich ins Studio begeben, sich der Unterstützung prominenter Kollegen wie Wolf Maahn, der Jungs von den Bläck Fööss und Paul Kuhn versichert und seine erste Solo-Platte eingespielt.

„Auf dieser Platte sind fast nur Texte, die entweder zu lang oder zu autobiographisch waren, um bei BAP verwirklicht zu werden.“ Was das bedeutet, kriegt der Hörer gleich im ersten Lied zu spüren: Zehn Minuten lang singt Niedecken von seiner Kindheit in den Fünfzigern, von der Zeit im Rheinbacher Internat, von der Hölle dieser Männerwelt, vom Kalten Krieg.

„Do hattst et nie met Aljebra, met Formle, Zahle …“ besingt er sich selbst im Refrain. Ob da nicht neunzig Prozent der Zuhörer gleich zustimmen würden („Genau, ich auch nicht!“), ob er nicht durch Klischees eine billige Identifikation anbiete, lautet die Frage. „Klar habe ich Angst vor Klischees. Aber das hier stimmt, ich hatte wirklich eine Beton-Gnaden-Fünf in Algebra, ich habe auch von Technik keine Ahnung. Ich bin wirklich froh, wenn ich beim Auto die Tür auf- und zukriege.“

Wolfgang Niedecken singt fast nur von Dingen, die er selbst erlebt hat. „Ich werde immer von dem schreiben, was mir im Kopf rumschwirrt, das wird mir der oberste Maßstab sein. Wenn es dann noch Leute interessiert, umso besser.“ Die Konsequenz dieser „Ehrlichkeit“, dieses radikalen Anspruchs, „realistisch“ zu sein: Viele Lieder handeln nur noch von den Problemen des Rockstars Niedecken. Für ihn ja vielleicht sehr wichtig, aber interessiert das dann noch das Publikum? „Ich glaube, daß gerade das die Leute sehr interessiert.“

Manchmal wird es ihm allerdings auch selber unheimlich, was das Publikum mit seinen Texten anfängt. Das vielleicht bekannteste BAP-Lied, „Verdamp lang her“, ist ein letzter Dialog mit seinem verstorbenen Vater.

Wie ist es für ihn, wenn im Konzert die Fans das Lied mitgrölen? „Am Anfang war es komisch, aber das Lied hat sein Eigenleben entwickelt. Wir spielen das meistens in der Phase des Konzertes, wo es nur noch abgeht.

Ich denke dann nicht mehr an das Stück selber, sondern wundere mich: Was machen die da unten jetzt für Gesichter an einer Stelle, die eigentlich unheimlich hart ist. Dem einen ist vor drei Jahren die Frau abgehauen, und er denkt bei dem Stück: ‚Verdammt lang her — und ich stehe bei meinem Vater am Grab. Das ist schon merkwürdig.“

Wolfgang Niedecken will verstanden werden. Er beläßt es nicht bei den Liedern, sondern fügt seinen Platten immer noch ein Heft bei, gleichsam als Anleitung zur Textauslegung: Da wird ins Hochdeutsche übersetzt, die Entstehungsgeschichte erzählt, kleine Bildchen und Collagen abgedruckt.

Hat er Angst, daß der Hörer mit den Liedern macht, was er will? „Ich mag diese Haltung nicht, die viele auch in der bildenden Kunst haben, dieses geheimnisvolle Verschlüsseln und Mystifizieren, das Verschleiern von Sachen, die weder Hand noch Fuß haben. Ich gebe den Leuten die Möglichkeit, rauszukriegen, was ich gemeint habe, aber ich zwinge sie nicht dazu.“

Das Klare, Gradlinige, Ehrliche, das sind seine Markenzeichen, prägen das Bild vom „kölschen Jung“, der gegen alles Böse und für alles Gute ist. Hat er nicht auch bei seinen Fans diesen Heiligenschein? „Ich mache mich immer mehr frei davon. Ich gebe meine Widersprüche zu, ich kann eigentlich auch nur durch diese Widesprüche leben. Ich möchte nicht dastehen als der heilige Familienvater, als der Prototyp des ‚Neuen Mannes‘.“

Hehre Vorsätze — Tatsache ist, daß er einen moralischen Vorschuß genießt wie wenige im Lande. Das will er in der Zukunft auch in politischen Fragen mehr nutzen als bisher: „Mittlerweile gehe ich da gezielt ran und warte nicht nur ab, bis man auf mich zukommt. Zum Beispiel habe ich versucht, das Wackersdorf-Festival möglichst groß zu machen. Ich muß nur aufpassen, daß ich das Engagement nicht inflationär handhabe: Es gibt ja Kollegen, die kennst du nur noch durch die Unterschriftenlisten. Die haben sich verschlissen, da guckst du gar nicht mehr hin. Als so einer möchte ich nicht enden.“

Die nächste Frage geht wieder ins Musikalische. Einige seiner Lieder würden sicher besser alleine zur akustischen Gitarre klingen. Er lacht: „Das mag einen gewissen Charme haben, aber nicht den, daß du dir das mehr als zehnmal auf den Plattenspieler legst. In einer gewissen Atmosphäre ist es ja schön, aber ich kann mich halt nicht zu jedem bei Kerzenschein ins Wohnzimmer setzen.“

Also wird weitergerockt: In diesem Sommer mit den „Complizen“ auf diversen Festivals, im Oktober wird BAP als erste westliche Rockband auf China-Tournee gehen. Was um alles in der Welt sollen die Chinesen mit Niedeckens Kölner Liedern anfangen?

„Wir werden uns den Erfolg ziemlich erkämpfen müssen. Wir werden zwei Konzerte in Shanghai geben. Wenn die 20.000 das am ersten Abend nicht gut gefunden haben, wird da am zweiten Abend überhaupt nichts passieren, da werden wir dann sehr leere Reihen haben.“ Es wäre das erste Mal seit Jahren.