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Fahndung im Stammbaum

Die Zeit

Mit Genetik und Ahnenforschung klären Ermittler in den USA Gewalttaten auf, die Jahrzehnte zurückliegen.

Paul Holes saß in seinem geparkten Auto in Citrus Heights, einem Vorort der kalifornischen Hauptstadt Sacramento, und beobachtete ein Haus auf der anderen Straßenseite. Es war der 29. März dieses Jahres, und der Ermittler der Staatsanwaltschaft von Costa County stand vor der vielleicht schwersten Entscheidung seiner Laufbahn. Sollte er hinübergehen, klingeln und Joe DeAngelo ins Gesicht sagen, dass er ihn für den seit Jahrzehnten gesuchten Golden-State-Killer hielt? Es wäre die Krönung seiner Karriere gewesen, an seinem letzten Arbeitstag – am nächsten Tag stand seine Frühpensionierung mit 50 Jahren an.

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Unterwegs in perfektoiden Räumen

Die Zeit, 1.8.2018

Der Bonner Mathematik-Star Peter Scholze erhält die begehrte Fields-Medaille. Kann man begreifen, wofür?

Nein, Sie werden am Ende dieses Artikels nicht verstehen, was die „perfektoiden Räume“ sind, für die Peter Scholze beim Internationalen Mathematikerkongress in Rio de Janeiro die Fields-Medaille bekommen hat. Schon allein deshalb, weil der Autor dieses Artikels (der ein Mathematik-Diplom an derselben Universität erworben hat wie der Preisträger) sie nicht versteht und ebenso wenig die meisten Mathematik-Professoren. Selbst Scholzes Doktorvater gibt zu, nicht wirklich mit dessen Methoden vertraut zu sein. – Herr Scholze, sind es zehn, hundert oder tausend Mathematiker, die mit Ihnen auf Augenhöhe diskutieren können? „Eher zehn.“ Die Luft muss dünn sein da oben.

Trotzdem war sich die Fachwelt selten so einig, dass ein Mathematiker diese Auszeichnung verdient hat. Die Fields-Medaille wird alle vier Jahre an ein paar Forscher unter 40 vergeben, die meisten bekommen sie bei der letzten möglichen Gelegenheit. Scholze ist 30, und viele meinen, der Preis hätte ihm schon vor vier Jahren zugestanden.

Es war also keine Überraschung für ihn, als er vor ein paar Monaten eine E-Mail vom Präsidenten der Internationalen Mathematischen Union bekam. Der fragte, ob man sich mal per Skype unterhalten könne. „Ich konnte mir schon denken, worum es ging“, sagt Scholze heute. „Aber gerade weil mir das immer von allen Seiten gesagt worden war, war es dann doch eine große Freude und auch eine Erleichterung, dass ich den Preis kriege.“ Nur den engsten Vertrauten durfte er davon erzählen, auch die Presse musste bis zum Mittwochnachmittag dieser Woche Stillschweigen bewahren.

Wenn man Scholze im Interview bittet, seine Ideen möglichst allgemein verständlich zu erklären, dann beginnt er mit den ganzen Zahlen, 1, 2, 3, 4 …, aber schon nach drei Sätzen schaut er sein Gegenüber nicht mehr an, erklärt, dass die ganzen Zahlen Funktionen in einem dreidimensionalen Raum seien und die Primzahlen den Knoten in diesem Raum entsprächen. „Aber man darf diese Aussage auf keinen Fall zu wörtlich nehmen.“ Er merkt, dass er sein Publikum verliert, und er reagiert darauf nicht mit Arroganz, sondern eher mit Resignation. Wie soll er die Dinge, über die er seit Jahren mit unvorstellbarer Intensität nachdenkt, in ein paar Minuten zusammenfassen? „Mathematik zeichnet sich dadurch aus, dass sie extrem kumulativ ist“, sagt Scholze. Ein Stein baut auf dem anderen auf, und man kann beim Erklären nicht mit der Spitze des Gebäudes beginnen.

Die Disziplin, in der Scholze arbeitet, nennt sich Arithmetische Geometrie. Sie baut Brücken zwischen der Zahlentheorie, also den erwähnten ganzen Zahlen, und geometrischen Objekten, von denen man sich eine bildhafte Vorstellung machen kann. Scholzes Faszination dafür begann, als der 16-jährige Gymnasiast vom Beweis des Großen Fermatschen Satzes hörte, den der Brite Andrew Wiles 1994 geliefert hatte, 350 Jahre nach der Formulierung durch Pierre de Fermat. Der Satz besagt, dass die Gleichung x n + y n = z n nicht von ganzen Zahlen für x, y und z erfüllt werden kann, wenn n größer als 2 ist. Als Schüler konnte Scholze die Details noch nicht verstehen. Aber das Thema packte ihn, er wollte mehr erfahren.

Peter Scholze wurde 1987 in Dresden geboren, zwei Jahre vor dem Mauerfall. Seine Mutter war Informatikerin, sein Vater Physiker. Sie schickten ihn auf das Heinrich-Hertz-Gymnasium in Friedrichshain, das schon zu DDR-Zeiten auf Mathematik spezialisiert war. Diese Entscheidung sollte sich als schicksalhaft erweisen: Als sein Mathelehrer ihm nichts mehr beibringen konnte, schickte er Scholze zum ehemaligen Hertz-Gymnasiasten Klaus Altmann, mittlerweile Professor für Mathematik an der Freien Universität Berlin. Der reichte ihn an seinen ehemaligen Betreuer Michael Rapoport weiter, ebenfalls ein Absolvent des Gymnasiums, der an der Universität Bonn lehrte.

Scholze fühlt sich als Entdecker, nicht Schöpfer neuer Konzepte

Diese Seilschaft war segensreich, brachte sie doch den jungen, noch unsicheren Scholze auf eine beispiellose akademische Überholspur. Rapoport erkannte Scholzes Talent, die Universität erließ dem 18-Jährigen einen großen Teil der Pflichtveranstaltungen. So machte er nach drei Semestern seinen Bachelorabschluss, nach zwei weiteren den Master. Promoviert wurde er mit 24, und noch vor seinem 25. Geburtstag berief ihn die Universität zu Deutschlands jüngstem ordentlichen Professor.

Zu dieser Zeit war Scholze schon international bekannt durch seine Beiträge zum sogenannten Langlands-Projekt – dem Paradebeispiel für den Versuch, auf sehr hoher theoretischer Ebene scheinbar weit entfernte Gebiete der Mathematik zusammenzubringen, um dadurch höhere Erkenntnisse zu gewinnen. Die großen ungelösten Probleme, darin sind sich die meisten Mathematiker einig, lassen sich nur durch solche Brückenschläge bezwingen.

Was ich jetzt mache, ist eingebettet in eine größere Struktur, die ich noch nicht verstehe

Peter Scholze, Mathematiker und Fields-Preisträger

Natürlich ist die Zahl derjenigen, die gleich in mehreren mathematischen Disziplinen auf einem solchen Niveau arbeiten können, klein. Und noch seltener sind die Meister, die durch neue Begriffsbildungen das Feld voranbringen. Genau das hat Scholze mit seinen perfektoiden Räumen getan, die wenig mit der Laienvorstellung vom Raum zu tun haben, sondern statt auf den reellen auf den exotischen sogenannten p-adischen Zahlen basieren. Das bescheinigt ihm Michael Harris von der Columbia-Universität, der selbst wichtige Beiträge zum Langlands-Programm geleistet hat: „In der zeitgenössischen Mathematik gibt es selten ein so klares Beispiel für eine neue Begriffsbildung. Der perfektoide Raum ist eines der schwierigsten Konzepte, die je in die arithmetische Geometrie eingeführt wurden – und die hat eine lange Tradition schwieriger Begriffe.“

Eine mathematische Revolution zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Kollegen die Arbeit erleichtert. So wie Alexander der Große den Gordischen Knoten durchschlug, bringt eine solche Idee Ordnung und eine neue Einfachheit in ein mathematisches Gebiet. Scholze sagt: „Einige der aktuellen Arbeiten wären gar nicht möglich ohne die neuen Begriffsbildungen, weil das alles viel zu kompliziert würde.“

Fühlt sich der junge Mathematiker als Schöpfer dieser neuen Konzepte? Nein, er entdecke sie, sagt er. „Ich fühle mich ein bisschen wie ein Physiker, der versucht, die Natur, die um ihn herum ist, zu verstehen.“ Selbst ein Mathematiker auf einem anderen Stern würde also dieselben Begriffe finden wie er? Mit der Antwort auf diese Frage lässt sich Peter Scholze gestoppte 26 Sekunden Zeit, bevor er sagt: „Ja und nein. Was ich jetzt mache, ist eingebettet in eine größere Struktur, die ich noch nicht verstehe. Aber ich bin der Meinung, dass viele dieser Begriffsbildungen unausweichlich sind. Ich habe nicht die Wahl, sondern ich muss diese Definition hinschreiben.“

Peter Scholze ist ein introvertierter Mensch, und der Medienrummel ist ihm zuwider. Auf eine Interviewanfrage der ZEIT antwortete er schon vor einigen Monaten, dass er dazu „generell wenig Lust“ verspüre. Später erklärte er sich zu einem Skype-Interview bereit. Die Universität Bonn hat ihm nun einen Kollegen als Medienbetreuer zur Seite gestellt, der die Presseanfragen in geordnete Bahnen lenken soll. Vor drei Jahren machte Scholze Schlagzeilen, weil er den mit 100.000 US-Dollar dotierten „New Horizons“-Preis für Mathematik ablehnte, der zur Reihe der Breakthrough-Preise gehört. Ins Leben gerufen wurden sie von Silicon-Valley-Größen wie Sergey Brin (Google) und Mark Zuckerberg (Facebook), die Preisträger werden in einer Oscar-reifen Zeremonie geehrt – auf eine solche Show hatte Scholze wohl keine Lust.

Scholzes Oberseminar ist Pilgerstätte für Nachwuchsmathematiker

Aber es wäre falsch, ihn in eine Reihe mit dem Mathematik-Eremiten Grigori Perelman (ZEIT Nr. 35/06) zu stellen, der sich komplett aus der Forschergemeinde zurückgezogen hat. Im Gegenteil: Wer mit Scholze gearbeitet hat, beschreibt ihn als einen zugänglichen, unkomplizierten und hilfsbereiten Kollegen. „Er ist extrem großzügig“, sagt etwa Matthew Morrow vom französischen Forschungszentrum CNRS in Paris, der bei Scholze als Postdoc gearbeitet hat. „Er ist ein Mentor für jüngere Mathematiker – auch wenn sie, wie ich, älter sind als er.“ Eugen Hellmann, der mit Scholze zusammen promoviert hat, bestätigt das: „Es war immer sehr einfach, mit ihm zu diskutieren. Er hat einem nie das Gefühl gegeben, dass er auf einer anderen Stufe steht.“ Sein Doktorvater Michael Rapoport findet eine weitere Eigenschaft Scholzes bemerkenswert: „Er ist weitgehend konfliktfrei. Er streitet sich nicht, beharrt nicht auf irgendwelchen Sachen – obgleich er auch in der Mathematik seine Prinzipien hat, von denen er nicht abgehen wird.“

Peter Scholze ist erst der zweite Deutsche, der die Fields-Medaille bekommt, nach Gerd Faltings, der den Preis 1986 erhielt. Und er ist der einzige deutsche Medaillenträger, der tatsächlich in Deutschland arbeitet. Darauf ist Karl-Theodor Sturm stolz, der das Hausdorff-Zentrum für Mathematik in Bonn leitet, einen im Rahmen der Exzellenzinitiative gegründeten Forschungsverbund. Nur mit einer solchen Einrichtung sei es möglich gewesen, den Jungstar zu halten, trotz Angeboten aus Harvard, Princeton und vom MIT.

Scholzes Oberseminar in Bonn ist zu einer Pilgerstätte für Nachwuchsmathematiker aus aller Welt geworden. „Da werden seine Arbeiten ausgetestet“, sagt Michael Rapoport, oft werde über sehr frische Skripte diskutiert. „Das muss man sich vorstellen wie bei Mozart, der die Ouvertüre von Don Giovanni noch am Nachmittag des Aufführungsabends fertiggestellt hat.“ (Diese Entstehungsgeschichte der Oper ist umstritten.)

Die Fields-Medaille wird gern als der „Nobelpreis der Mathematik“ bezeichnet. Aber dem widerspricht Peter Scholze vehement. Die Auszeichnung bekomme man ja nicht für sein Lebenswerk, dafür gebe es den – auch besser dotierten – Abelpreis. Er sieht die Auszeichnung eher als einen Etappensieg. „Mit der mathematischen Forschung habe ich doch gerade erst angefangen.“