Karl Dall: Ich habe einen Traum

Es gab einmal diese Serie im Zeitmagazin: „Ich habe einen Traum“. Für die habe ich 2001 in Hamburg Karl Dall besucht. Er wurde auch fotografiert, mit geschlossenen Augen, das war das Markenzeichen der Serie. Aber mein Text wurde nie gedruckt, er war der Redaktion „zu rückwärtsgewandt”. Ich war aber sehr beeindruckt von dieser Begegenung – deshalb veröffentliche ich den Traum einfach hier.

Manchmal rieche ich nachts diesen Gestank von Bohnerwachs, mit dem in den Fünfzigerjahren der braune Linoleumboden in Schulen und Behörden behandelt wurde. Alle unangenehmen Dinge waren mit diesem Bohnerwachsgeruch verbunden – wenn man Behördengänge machen musste, oder wenn man mit schlechtem Gewissen in die Schule ging, weil man die Hausaufgaben nicht gemacht hatte.

Ich kann ich nicht sagen, dass ich eine Entbehrungskindheit gehabt hätte. Ich habe den Hunger nicht gespürt, obwohl ich weiß, dass wir gehungert haben. Ich habe auch die Kälte 1946/47 nicht gespürt, weil die ganze sechsköpfige Familie in einem Raum gelebt hat.

Nur die Schule war beengend. Ich war ich nicht richtig schlecht, aber ich habe nicht eingesehen, dass man nach der Schule zu Hause noch weiter arbeiten muss. Das führte zu Problemen, ich wurde öfters in die Ecke gestellt. Man musste damals ja noch mit dem Gesicht zur Wand stehen, und da habe ich dann immer runtergeguckt und dieses hässliche Bohnerwachs gerochen auf der braunen Auslegware.

Ich war ein Einzelgänger – wenn etwas unangenehm war, dann bin ich gar nicht nach Hause gegangen, sondern gleich mit dem alten Damenfahrrad meiner Mutter an den Deich gefahren, habe mich ins Gras gelegt und zum Himmel geguckt. Ich kann sehr gut alleine sein und stundenlang an nichts denken. Ich muss mich nicht beschäftigen wie Leute, die meinen, dass sie jede halbe Stunde mit Sport oder irgendetwas anderem ausfüllen müssen. Ich kann tagelang rumdösen, ohne mich zu langweilen. Versuche vielleicht, irgendetwas zu reparieren, was ich eigentlich gar nicht kann, und freue mich dann kindisch, wenn ich es doch schaffe. Alte Grammophone zum Beispiel kann ich prima reparieren. Irgendwo ist ein kleiner Tüftler oder Handwerker an mir verloren gegangen.

Ich gehörte nicht zu den Kindern, die am Wandertag immer neben dem Lehrer liefen und ihm die Gräser gezeigt haben. In der 9. Klasse bin ich sitzen geblieben. Die Eltern wurden damals einen Tag vor den Zeugnissen mit dem Stadtboten benachrichtigt. Den hab ich noch abgefangen und ihm den Blauen Brief abgeschwatzt – nur um noch mal 24 Stunden Aufschub zu haben. Mein Vater fiel dann am nächsten Tag aus allen Wolken.

Die Wende kam mit 13, 14 Jahren. Ich war schmal, lang und habe durch meine Physiognomie die Leute schon zum Lachen gereizt. Ich wusste damals nur nicht, dass es sich dabei eigentlich schon um Publikum handelte. Wenn ich aufstand und mich meldete: „Herr Rektor, ich habe da mal eine Frage …“, dann haben die schon gelacht.

Ich habe nur gemerkt: Wenn ich richtig funktioniere und das tue, was man von mir verlangt, dann verende ich in der Mittelmäßigkeit. Und aus dem Bedürfnis heraus, etwas anderes zu machen, wurde ich frecher, als damals erlaubt war. Nur ein Beispiel: Während die Lehrerkonferenz darüber verhandelte, ob ich jetzt der Schule verwiesen werden sollte, habe ich mich mit einem Kindersaxofon vor das Lehrerzimmer gestellt und „Happy Birthday“ für einen Lehrer gespielt. Aus reiner Angst, aber die mussten ihre Konferenz abbrechen und konnten mich gar nicht mehr rausschmeißen, weil ich ja auch auf der anderen Seite so liebevoll an den Geburtstag gedacht hatte.

Mein Vater wollte immer einen Beamten aus mir machen. „Geh zur Post, oder geh zur Bahn“ – das war für mich eine Horrorvorstellung. Einer aus unserer Klasse wurde dann Bahnhofsvorsteher in Ostfriesland. Der stand da mit so einer Lackschirmmütze und mit einem ganz wichtigen Gesicht. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte in dieser Lackschirmmütze da gestanden …

Ich hatte gedacht, dieser Bohnerwachsgeruch kommt nie wieder. Aber als meine Tochter 1980 eingeschult wurde – da hatte ich diesen Gestank der Fünfziger Jahre wieder in der Nase. Ich bin dann vor der Schule stehengeblieben und nicht hineingegangen. Heute versuche ich Ämter so weit wie möglich zu meiden, gehe nur alle paar Jahre meinen Pass verlängern.

Aber es gibt auch schöne Träume. Der schönste Traum, den ich als Kind hatte, war als 10-Jähriger im Freibad, wenn ich auf dem Rücken im Gras lag und in den Himmel guckte. Wenn die Schäfchenwolken dann so über den tiefblauen ostfriesischen Himmel zogen, habe ich mich gefühlt, wie wenn ich auf einem Teppich fliege. Es gibt da so ein Lied aus den Fünfzigern: „Winde wehen, Schiffe gehen weit ins Meer hinaus …“

Und dieser Traum ist nach 40 Jahren in Erfüllung gegangen: Ich liege jetzt, so oft ich will, im Sommer in einem Holzkanu und sehe den kanadischen Himmel genau in der gleichen Farbe wie damals in Ostfriesland, und die gleichen weißen Schäfchenwolken ziehen darüber. Es kommen nur noch ein paar Weißkopfadler dazu, die in der Luft kreisen. Das Kanu habe ich vor ein paar Jahren von einem Indianer gekauft. Darin lasse ich mich über den See treiben, schaue in den Himmel und lande vielleicht irgendwo im Schilf. Das geht nicht auf der Alster, auf der Ems oder auf der Havel. Seit vier oder fünf Jahren nehme ich mir die Zeit dafür und verschwinde für ein paar Monate. Das merkt hier kaum jemand, weil ich durch die vielen Wiederholungen auch so ständig im Fernsehen präsent bin.

Und es gäbe vielleicht noch einen Traum: dass mich vielleicht einmal ein Regisseur gegen meinen Typ besetzt. Mal einen gebrochenen Charakter zu spielen, mit einem guten Text und nicht nur diesen Drehbüchern mit leeren Seiten, die ich sonst immer bekomme. Das hat noch keiner versucht.

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