Für immer 13

Die Zeit

Warum wir uns an keine Musik so intensiv erinnern wie an die Hits unserer Teenie-Zeit – selbst wenn uns die Melodien heute peinlich sind.

Meine erste Schallplatte war Lola von den Kinks. Ich war zwölf Jahre alt, und wenn heute die ersten beiden Akkorde im Radio erklingen, gespielt auf einer blechern klingenden Resonator-Gitarre, dann ist das wie eine Zeitmaschine. Sie versetzt mich zurück in mein Jugendzimmer und zu dem alten Mono-Plattenspieler meiner Eltern. Ähnlich ist es mit vielen anderen Songs aus den frühen Siebzigern. Zwar versuche ich, offen für neue musikalische Erfahrungen zu sein, aber diese enge Verbindung von Musik, Gefühl und Erinnerung ist fast ausschließlich beschränkt auf eine bestimmte Phase meines Lebens, zwischen zwölf und vielleicht 27 Jahren.

Damit bin ich nicht allein. Im Zeitalter der Musik-Streamingdienste kann man das etwa anhand von Spotify-Daten nachweisen. Der amerikanische Datenwissenschaftler Seth Stephens-Davidowitz hat vor zwei Jahren die Streamingzahlen von US-Top-Hits aus mehreren Jahrzehnten ausgewertet und seine Ergebnisse in der New York Times veröffentlicht. Demnach sind die Hits von damals jeweils am beliebtesten bei Frauen, die 13 Jahre alt waren, als der Song herauskam, und bei Männern, die damals 14 waren.

Es gibt in der psychologischen Forschung einen Namen für dieses Phänomen: reminiscence bump, zu Deutsch etwa „Erinnerungshügel“. In unserer Jugend und im frühen Erwachsenenalter sammeln sich besonders viele und besonders emotionale Erinnerungsspuren in unserem Gehirn. Das ist nicht auf Musik beschränkt, es gilt auch für Filme oder Bücher, für zeithistorische Ereignisse und natürlich für solche aus dem eigenen Leben. Menschen kennen mehr Politiker aus ihrer Jugend als aus der Gegenwart („Brandt und Adenauer, das waren noch echte Charaktere!“). Und wenn man sie bittet, wichtige Erlebnisse aus der eigenen Biografie aufzulisten, dann ballen die sich in dieser Lebensphase.

Warum ist das so? Letztlich ist die Frage nicht geklärt, aber es gibt mehrere Hypothesen:

  • Als Jugendliche und junge Erwachsene erleben wir viele Dinge zum ersten Mal. Es ist eine Zeit des Wandels. Später ist ein großer Teil dessen, was wir erleben, eine Wiederholung von bereits Bekanntem.
  • In der Pubertät verändert sich auch unser Gehirn stark. Wir bilden neue Synapsen, der Körper ist starken hormonellen Veränderungen ausgesetzt. Unsere Lernfähigkeit ist in dieser Zeit am größten, und so speichern wir Erinnerungen, was das Zeug hält.
  • Wenn wir erwachsen werden, bilden wir unsere Identität heraus. Die bis dahin angesammelten Erinnerungen bestimmen, wer wir sind, und haben daher für uns ein höheres Gewicht als jene, die später kommen.
  • Wir entwickeln im Rückblick eine Art Skript unseres Lebens, oft eine geschönte Version der tatsächlichen Biografie. Und auf bestimmte Erlebnisse schauen wir lieber zurück als auf andere. Diese Theorie wird durch die Tatsache gestützt, dass der bump vor allem für positiv besetzte Erinnerungen nachweisbar ist, nicht für negative.

Musik hat aber auch einige Besonderheiten, die sie von anderen Erinnerungen unterscheidet. Während die meisten Menschen Filme einmal, höchstens zweimal schauen, sind musikalische Erfahrungen meist Wiederholungstaten. Man legt eine CD immer wieder auf und macht sie zum Lebensbegleiter. Besonders musikalische Laien neigen dazu, die Musik ihrer Jugend in Endlosschleife zu hören, viele Radiosender orientieren sich daran und richten so ihr Programm auf ein ganz bestimmtes Publikum aus. „Der Schlüsselbegriff ist Nostalgie“, sagt der Musikforscher Reinhard Kopiez von der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, der über den Erinnerungshügel geforscht hat. „Das sind bittersüße Erinnerungen: ‚Schade, dass es vorbei ist, aber es war eine schöne Zeit!'“

Die Musik der Jugend ruft die stärksten Gefühle hervor

Kopiez hat mit einigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern selbst eine Studie zum Thema gemacht. Die Forscher spielten 48 Probanden die jeweiligen Top-Hits aus 80 Jahren vor und baten die Studienteilnehmer, diese Lieder mit wichtigen persönlichen Erlebnissen zu verknüpfen. Hinsichtlich der emotionalen Wirkung der Musik konnten sie den reminiscence bump bestätigen – die Musik aus der Jugend rief die stärksten Gefühle hervor. Überrascht waren die Forscher dagegen, als sie auf die persönlichen Erlebnisse schauten, die mit bestimmten Songs verbunden waren: Die häuften sich nicht bei einem bestimmten Lebensalter. Offenbar können wir bis in unsere Fünfziger noch solche Verbindungen herstellen. Kopiez ist allerdings ein wenig skeptisch, ob mit dieser Methode, also der Anregung des Gedächtnisses durch Standardreize – sprich Top-Hits –, noch große Erkenntnisse zu gewinnen sind.

Fast alle Studien auf diesem Gebiet arbeiten mit den jeweiligen Spitzenreitern der Hitparade. Das hat den Vorteil, dass sich das Alter, in dem die Probanden die Musik zum ersten Mal gehört haben, sehr gut bestimmen lässt. Aber dadurch fällt eine Menge Musik durch das Raster, etwa Klassik oder Jazz, die für manche Teilnehmer die größte emotionale Bedeutung hat. Und selbst wenn man im Bereich der populären Musik bleibt – wer 1985 ein Punk war, für den ist You’re My Heart, You’re My Soul, der deutsche Top-Hit jenes Jahres, wahrscheinlich kein Trigger für angenehme Erinnerungen. Die Verbindung von Musik und Emotion ist hochgradig individuell. Oft erzeugen Lieder von einer CD, die man vor Jahrzehnten häufig gehört hat, die aber nicht im Radio in Dauerrotation läuft, die stärksten emotionalen Flashbacks.

Und in Zeiten der zunehmenden Individualisierung des Musikkonsums durch Streamingdienste ist es fraglich, ob einzelne Lieder überhaupt noch für ganze Jahrgänge eine kollektive Erfahrung darstellen. Die Auswirkungen dieser „Spotifyisierung“ des Musikkonsums werden die Musikforscher in 20 oder 30 Jahren ergründen können.

Die Erinnerungshügel-Forschung ist aber keine rein akademische Übung, ihre Ergebnisse lassen sich ganz praktisch anwenden: in der Therapie von Demenzpatienten. Musikalische Erinnerungen sind nämlich nicht nur stark mit Emotionen verknüpft, sie gehören auch zu jenen, die am längsten überleben, wenn das Gedächtnis nachlässt. Musik kann Alzheimer-Patienten, die ansonsten kaum noch ansprechbar sind, geradezu aufwecken. Die Heidelberger Musiktherapeutin Eva-Maria Holzinger organisiert einen regelmäßigen Singkreis für demente Senioren, in dem sie vor allem klassische deutsche Volkslieder auf der Gitarre spielt und singt. „Die Menschen mit Demenz kommen in Kontakt miteinander, sie kommunizieren mehr. Der Fuß wippt im Takt, und manche, die es eigentlich gar nicht mehr können, versuchen aus ihrem Rollstuhl aufzustehen und möchten das Tanzbein schwingen.“

Was besonders erstaunlich ist: Die Musik kann wie ein Katalysator wirken und auch Erinnerungen wecken, die mit den Liedern gar nichts zu tun haben. Das bestätigt der Musikforscher Stefan Kölsch von der norwegischen Universität Bergen. Die Forschung habe in jüngster Zeit eine Gehirnregion identifiziert, das sogenannte prä/supplementär-motorische Areal, in dem Gefühle und Erinnerungen miteinander verknüpft werden. „Wahrscheinlich gibt es in diesem Bereich des Gehirns so etwas wie einen Emotions-Gedächtnis-Tunnel, der durch Musik geöffnet werden kann“, sagt Kölsch. „Dann kann dort auf Gedächtnisinhalte zugegriffen werden, die bei Demenzpatienten schon verloren geglaubt waren.“

Der musikalische Erinnerungshügel ist inzwischen durch viele Studien bestätigt worden. Eine Forscherin behauptet gar, dass es nicht nur einen solchen Hügel gibt, sondern zwei. Die Psychologin Carol Krumhansl von der amerikanischen Cornell-Universität erforschte das Phänomen 2013 anhand von Hits der Jahre 1955 bis 2009 mit Studierenden. Die Probanden waren um die 20 und damit noch zu jung, um einen eigenen reminiscence bump ausgeprägt zu haben – sie verbanden mit Musik umso mehr Erinnerungen, je aktueller die Songs waren. Erst später sortiert das Gedächtnis unwichtige Stücke aus, und der Erinnerungshügel entsteht.

Aber interessanterweise zeigte die Kurve einen ausgeprägten Hügel Anfang der Achtzigerjahre, lange vor der Geburt der Teilnehmer. Krumhansls Erklärung: In dieser Zeit waren die Eltern der Studierenden Teenager oder junge Erwachsene. Und sie hörten die Musik der Achtziger noch, während sie ihre Kinder aufzogen. Der Erinnerungshügel, sagt die Psychologin, werde also in gewisser Weise von einer Generation an die nächste weitergegeben. Es könnte aber natürlich auch sein, dass die Hits der Achtzigerjahre besonders zeitlos sind.

Zumindest anekdotisch kann ich das Phänomen des zweiten Erinnerungshügels aber bestätigen: In meiner Kindheit stellten meine Eltern nur am Sonntagmorgen einen Klassik-Radiosender ein, unter der Woche war es der musikalische Mainstream auf WDR2. Und bei den Brandenburgischen Konzerten von Bach steigt mir immer noch im Geist der Geruch von aufgebackenen Brötchen in die Nase.