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Kochen im Datenraum

Die Zeit

Die globalen Datennetze gelten als Quell überströmender Information. Aber was kann man dort wirklich finden? Ein kleine Suche in der Praxis.

Die Datennetze dieser Welt versprechen vor allem eins: Informationen auf Tastendruck. Als privater Anwender braucht man nur einen Computer, ein Modem, das die Maschine mit dem Telephonnetz verbindet, und schließlich irgendeine Zugriffsberechtigung auf den Datenraum – und schon warten Megabytes, Gigabytes, Terabytes von Daten darauf, abgeholt zu werden. So versichert es der Netzmythos.
Das reizt dazu, die Probe aufs Exempel zu machen. Mit einer alltäglichen Fragestellung, nicht einem jener Computerprobleme, bei denen die Netze traditionell übersprudeln vor Hilfe.

Mein fiktives Problem: Gäste werden erwartet, und sie sollen ein schmackhaftes Abendessen bekommen. Angenommen, alle Vorräte an Kochbüchern, Kochdisketten und Koch-CD-ROMs sind kürzlich einem Küchenbrand zum Opfer gefallen; ich muß mich digital inspirieren lassen. Was liefert die Online-Welt an Rezepten?

Der erste Anlaufpunkt heißt CompuServe. Um im Datenmeer dieses kommerziellen Online-Diensts Kochrezepte zu finden, wirft man am besten dem Suchsystem das Wort „cooking“ hin – die Alltagssprache dort ist immer noch Englisch.

Prompt nennt der Computer einige Anlaufpunkte. Ich muß nur die Firmen aussortieren, die mir Töpfe und Pfannen verkaufen wollen. Übrig bleibt das „Cook’s Online Forum“, und tatsächlich haben in dessen Bibliothek Compuserve-Nutzer Hunderte von Rezepten zusammengetragen, teilweise sogar mit Photos: Fleischgerichte, Desserts, „ethnische“ Rezepte, Mikrowellengerichte, Vegetarisches.

Das ist alles so ausführlich und übersichtlich, daß der Forscherdrang gleich erlahmt. Aber ich soll ja nicht wirklich kochen, sondern nur Quellen auftun. Neben den richtigen Rezepten tauschen die Online-Köche Tips in ihren messages aus – das typische Frage-und-Antwort-Spiel elektronischer Diskussionsforen, hier über die delikatesten Verwendungen der Erdnußbutter (ein gewisser Larry empfiehlt sie mit Speck auf Toast – „köstlich und dekadent“) oder das Verwandeln von Pesto-Sauce in Eiswürfel.

Schon in CompuServe wird man feststellen, daß die Daten im Netz derzeit hoffnungslos amerikanisch dominiert und keineswegs immer verläßlich sind. Bei einem Kochbuch darf man davon ausgehen, daß die Rezepte von Fachleuten stammen. Kommerzielle Datenbanken, auch in CompuServe, erfüllen diesen Anspruch genauso. In den Diskussionsforen aber sieht man die Informationen vagabundieren; sie stammen meist von Laien und sind mit Vorsicht zu genießen – bei Rezepten zumal.

Dabei ist ein solcher Online-Dienst noch ein übersichtliches, behütetes Heim im Vergleich zu jenem Dschungel der Daten, der sich Internet nennt. Ist hier alles zentral organisiert, mit gut beschilderten Clubräumen, an deren wohlgeordnete Lesetische man treten darf, ist der Anschluß ans Internet wie die Befreiung aus dem Käfig der physischen Existenz. Niemand hat dort einen vollständigen Überblick, welche Informationen wo verfügbar sind und welche Menschen man wie erreicht.

Das neueste Zaubermittel gegen diesen Zustand heißt „Hypertext“. Mit passender Software kann man assoziativ auf dem Datenozean „surfen“, wie das die Netzgläubigen nennen. Eigentlich ist es mehr ein Wandern – Leute in aller Welt bauen ihre Datenschaufenster auf, mit Texten und Graphiken, Eingabefeldern und Verweisen zu anderen Schaufenstern, und man läßt sich davon hierhin oder dorthin locken. Das Konzept nennt sich World Wide Web (WWW). Seit 1991 am europäischen Kernforschungszentrum CERN das passende Hypertext-Protokoll entwickelt wurde, steigt der Datentransfer im WWW explosionsartig an.

Nun könnte man wieder Datenbanken nach Kochrezeptquellen dort durchflöhen – aber machen wir es einmal ganz auf WWW-Art.

Bei einer Recherche hatte ich kürzlich mit der Wissenschaftlerin Donna Hoffman von der Vanderbilt-Universität in den USA zu tun. Donna hat auf ihrem Computer eine eine „Home Page“, ihre persönliche Hypertext-Seite, auf der sie ihre Lieblingsplätze im World Wide Web eingetragen hat . Die Seite habe ich mir damals abgespeichert, weil sie mir nützlich schien, und rufe sie nun mit dem Programm Mosaic auf , das zum Durchwandern des WWW dient.

So eine Home Page ist keine simple Liste, sondern eben ein Bildschirmdokument aus Text und Bildern, bei denen manche Stellen als sogenannte Links funktionieren. Da könnte ein Satz stehen wie „Auf einem australischen Computer gibt es ein schönes Bild von einem Dinosaurier“. Das Wort „Dinosaurier“ ist unterstrichen; ein Mausklick darauf genügt, und der Computer stellt in Sekunden die Verbindung zu dem Rechner in Australien her und lädt das Dinosaurierbild von dort auf den heimischen Bildschirm.

Donna zeigt auf ihrer Seite Quellen, die dem Informationssucher im Netz helfen. Wir klicken auf „Internet Resources Meta-Index“, und nach einigen Sekunden des Wartens sind wir mit dem CERN in Genf verbunden. Der Netzindex dort läßt uns ein Stichwort eingeben. Gut: „cooking“. Wieder eine kurze Verzögerung, und wir landen auf einer WWW-Seite der kalifornischen Stanford-Universität. Sie präsentiert 32 Links, die mit Kochen zu tun haben. Wohlgemerkt: nicht 32 Rezepte, sondern 32 Verweise zu anderen Orten, an denen Schmackhaftes zu finden ist.

An dieser Stelle wird einem klar, daß an eine vollständige Erforschung virtueller Kochkurse nicht zu denken ist. Das Internet ist nichts für Leute, die alles unter Kontrolle haben wollen. Ein paar Stichproben müssen es auch tun.

Ein französischer Computer bietet haufenweise Rezepte an – auf französisch natürlich. Nach einem Blick auf ein „Rillette de lapin de garenne“ geht es weiter zu „La Comida Mexicana“ eines Rechners in Mexiko. Alles auf spanisch, klar.

Als nächstes lockt ein „Kochbuch von Jean-Paul Sartre“; es entpuppt sich als fiktives Tagebuch des Philosophen, das die Alternativzeitung Free Agent in Portland, Oregon, abgedruckt hat. „6. Oktober. Ich habe erkannt, daß die traditionelle Form des Omelette (Eier und Käse) bourgeois ist. Heute habe ich versucht, eines aus Zigaretten, etwas Kaffee und vier kleinen Steinen zu machen. Habe es Malraux zu kosten gegeben, der rülpste …“

Die Rezepte eines slowenischen Computers sind da nahrhafter. Bei der Anfertigung eines „Bhuteljn“ würde so mancher über die Mengenangabe „50 dag weißes Mehl“ stolpern Wie schön, daß alle Angaben mit einer Umrechnungstabelle verknüpft sind. Ein Mausklick – ein „dag“ ist ein Dekagramm, zehn Gramm.

Und am Institut für Kernchemie der Universität Mainz wird auch gekocht? O weh – doch alle Sorgen erweisen sich als unbegründet. Die Mitarbeiterin Christiane Franz – ein Photo zeigt sie samt Salatschüssel und assistierendem Kommilitonen – präsentiert vorwiegend regionale Spezialitäten. „Totes Schwein in Folie“ zum Beispiel (für achtzehn Personen).

Ein Link zur Universität von North Carolina fördert eine Seite über die französische Kochschule „Le Cordon Bleu“ zutage, und so könnte das munter noch einen halben Tag weitergehen, ohne daß die größte Datenflut überhaupt angekratzt würde.

Der Link „Usenet“ nämlich verbindet einen mit der fast zwanzig Megabyte umfassenden Rezeptsammlung der Usenet-Newsgroups. Newsgroups sind Diskussionsrunden, vergleichbar mit den Foren in CompuServe, nur in größerem Maßstab: Viele tausend Themen sind da ständig im Gespräch. In vielen Gruppen gibt es fleißige Teilnehmer, die wiederkehrende Fragen und Antworten in sogenannten FAQs, also Listen der Frequently Asked Questions, sammeln.

Zu unserem Thema gibt es etwa die weltweiten Usenet-Gruppen rec.food.cooking, rec.food.recipes, rec.food.veg.cooking und alt.gourmand; jede Menge regionaler Runden kämen noch dazu. In ihren FAQ-Kellern lagert alles, was der Gaumen begehrt – von eher simplen Anleitungen bis zur hohen Schule. Da kann kein Kochbuch der Welt mithalten.

Jetzt wäre der Zeitpunkt, die Suche mit Hilfe der erwähnten Internet-Suchprogramme zu systematisieren. „Archie“ und „Veronica“ würden ihr Bestes tun, mich mit ihren Ergebnissen noch tagelang vor den Bildschirm zu bannen und mitsamt meinen Gästen verhungern zu lassen.

Korrekterweise sollten wir uns auch weitere Quellen erschließen, zum Beispiel über Umwege die sagenhaften Kochbereiche des amerikanischen Dienstes America Online aufzusuchen, wo Rundfunksender und Frauenzeitschriften ihre Rezepte lagern, leckere Photos inbegriffen, und wo Leute angeblich noch während des Hantierens mit dem Schneebesen zum Online-Chat in die Tastatur greifen.

Doch lassen wir es besser sein. Schon so hat die Suche mehrere Stunden beansprucht. Die Datenübertragung war aufgrund überlasteter Leitungen oft lähmend langsam. Der Blick ins Kochbuch wäre unter praktischen Gesichtspunkten gewiß sinnvoller gewesen. Aber fragt danach ein echter Netzsurfer?