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Fahndung im Stammbaum

Die Zeit

Mit Genetik und Ahnenforschung klären Ermittler in den USA Gewalttaten auf, die Jahrzehnte zurückliegen.

Paul Holes saß in seinem geparkten Auto in Citrus Heights, einem Vorort der kalifornischen Hauptstadt Sacramento, und beobachtete ein Haus auf der anderen Straßenseite. Es war der 29. März dieses Jahres, und der Ermittler der Staatsanwaltschaft von Costa County stand vor der vielleicht schwersten Entscheidung seiner Laufbahn. Sollte er hinübergehen, klingeln und Joe DeAngelo ins Gesicht sagen, dass er ihn für den seit Jahrzehnten gesuchten Golden-State-Killer hielt? Es wäre die Krönung seiner Karriere gewesen, an seinem letzten Arbeitstag – am nächsten Tag stand seine Frühpensionierung mit 50 Jahren an.

Holes entschied sich gegen einen Showdown in Wildwestmanier. Ein weiser Entschluss, denn DeAngelo, ein Ex-Polizist, hatte mehrere Waffen in seinem Haus gelagert. Holes überließ die Arbeit seinen Kollegen. Die beschatteten DeAngelo in den folgenden Tagen, und als er einmal sein Auto verließ, um in einem Heimwerkerladen einzukaufen, wischten sie eine DNA-Probe vom Türgriff des Wagens. Die Analyse ließ keinen Zweifel: Das Erbgut war identisch mit jenem, das der berüchtigte Serienkiller und Vergewaltiger in den 80er-Jahren bei seinen Taten zurückgelassen hatte. DeAngelo leistete keinen Widerstand, als die Fahnder ihn verhafteten. Im September soll sein Prozess beginnen.

Der reine DNA-Abgleich war polizeiliche Routinearbeit. In den letzten Jahrzehnten ist die Labortechnik immer weiter verfeinert worden, selbst aus winzigen Spuren wie einem Fingerabdruck oder einem achtlos weggeworfenen Kaugummi können die Ermittler Erbgut isolieren und es mit anderen Proben vergleichen. Das Neue in diesem Fall war die Methode, mit der Holes den unbekannten Täter eingekreist hatte.

Bisher war die Polizei machtlos, wenn sie am Tatort zwar DNA-Spuren fand, aber diese DNA nicht von einem Kriminellen stammte, der bereits in den Computern erfasst war. Bei Holes’ Methode dagegen vergleicht man die DNA des Täters mit der von Millionen anderen Menschen und sucht nach möglicherweise weit entfernten Verwandten. Über Familienstammbäume wird dann der Kreis der Verdächtigen eingeengt. Seit der Festnahme DeAngelos boomt das Verfahren in den USA. Eine ganze Reihe weiterer cold cases, also Fälle, die bereits zu den Akten gelegt worden waren, konnten in den vergangenen Monaten auf diese Weise aufgeklärt werden.

Snohomish County Sheriff’s Office© ZEIT-Grafik

Der Golden-State-Killer, benannt nach dem Beinamen des Bundesstaats Kalifornien, hielt die Bewohner von Sacramento und später die von Costa County im Osten der San Francisco Bay ein Jahrzehnt lang in Atem. In dieser Zeit beging er zwölf brutale Morde, 45 Vergewaltigungen und mehr als 100 Einbrüche. Obwohl er an den Tatorten DNA-Spuren hinterlassen hatte, verliefen in den vergangenen Jahren alle Ermittlungen im Sande.

Paul Holes war Mitte der 90er-Jahre auf den Fall aufmerksam geworden. Immer wieder nahm er sich die Akte vor – hatten die Kollegen etwas übersehen? In den letzten zehn Jahren wurde sein Interesse zur Besessenheit. Der Golden-State-Killer beschäftigte ihn 24 Stunden am Tag, sieben Tage pro Woche. Dann hörte Holes von einem Fall aus dem Bundesstaat New Jersey, bei dem mit genealogischen Methoden nach Jahrzehnten der Fall eines Mörders aufgeklärt wurde, der eine Frau und drei Mädchen auf dem Gewissen hatte. Könnte das auch beim Golden-State-Killer funktionieren?

Auch weiter entfernte Familienmitglieder kann man so entdecken

Die Analyse von DNA wird jedes Jahr billiger, und Millionen von Menschen haben ihr Genom bereits untersuchen lassen. Man schickt eine Speichelprobe an Firmen wie 23andMe.com oder Ancestry.com und bekommt dann eine detaillierte Auskunft über die genetische Abstammung und über das persönliche Risiko für gewisse Erbkrankheiten. Auch nach Verwandten kann man in den Datenbanken der Firmen suchen.

Das zugrunde liegende Datenmaterial bleibt allerdings von außen unzugänglich. Das war zwei Männern in Florida ein Dorn im Auge. Im Jahr 2010 gründeten sie die Website GEDmatch, bei der sich jedermann kostenlos registrieren und eigenhändig ein standardisiertes DNA-Profil hochladen kann. Selbst Daten der kommerziellen Dienste lassen sich nutzen. Die hier entstehenden sogenannten SNP-Profile sind erheblich detaillierter als die DNA-Daten, über welche die Polizei verfügt. Zum Beispiel enthalten die SNPs (Single Nucleotide Polymorphism) Informationen über genetisch bedingte Eigenschaften wie Haut- oder Augenfarbe (siehe Kasten).

Bei GEDmatch sind etwa eine Million Nutzer registriert. Wer sein DNA-Profil hochlädt, kann über die Datenbank Menschen finden, die mehr oder weniger nah mit ihm verwandt sind. Das nutzte Paul Holes für seinen Trick: Er schrieb sich bei der Seite unter einem Decknamen ein und lud die Gen-Daten des Golden-State-Killers hoch.

Im Idealfall wäre natürlich der Täter selbst in der Datenbank. Das System findet aber auch Verwandte, teilweise sehr weit entfernte: Mit unseren Eltern und unseren Kindern teilen wir 50 Prozent der Basenpaare in einem SNP-Profil, mit Oma, Opa, Tante und Onkel jeweils 25 Prozent. Auch weiter entfernte Familienmitglieder kann man so entdecken. Im Fall des Golden-State-Killers bekam Holes gleich mehrere Treffer ausgespuckt. Keine nahen Verwandten des Täters, aber Cousins und Cousinen dritten Grades – Menschen, die ein Ururgroßelternpaar mit ihm gemeinsam haben.

Es wäre nicht sinnvoll, diese Menschen zu kontaktieren und nach gewalttätigen Verwandten zu fragen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kennen sie den Täter überhaupt nicht. Im nächsten Schritt untersuchten die Ermittler stattdessen Familienstammbäume, die es inzwischen in großer Zahl frei zugänglich im Internet gibt. Zunächst einmal ging die Reise zurück in die Vergangenheit: In diesem Fall mussten sämtliche Ururgroßeltern der gefundenen Personen ermittelt werden, jeweils acht Paare, die irgendwann im 19. Jahrhundert lebten. Dann geht man wieder vorwärts in der Zeit und bestimmt, soweit es möglich ist, alle Nachkommen all dieser Ururgroßeltern – eine riesige Zahl. „Die Familien hatten damals alle 15 Kinder“, sagt Holes.

Die Suche ist unter Genealogen umstritten

Eingeschränkt wird diese Zahl aber dann, wenn die in der Datenbank gefundenen Personen nicht miteinander verwandt sind. Denn das bedeutet, dass sich irgendwann im Verlauf der Zeit zwei Mitglieder der unterschiedlichen Familien gepaart haben müssen – und in deren Nachkommenschaft ist der Täter zu suchen.

Aber auch jetzt lieferte der Computer noch keinen eindeutigen Verdächtigen. Die betroffenen Menschen mussten identifiziert und bewertet werden. „Wir suchten“, erzählt Paul Holes, „nach einem Mann, in einem gewissen Zeitraum geboren, mit einer Verbindung nach Kalifornien, zwischen 1,72 und 1,78 Meter groß.“

Mit traditionellen Ermittlungsmethoden konnte nun die Zahl der Verdächtigen auf eine Handvoll reduziert werden. Zwei davon waren Brüder, bei denen sich keine Verbindung zu Tatorten herstellen ließ. Ein weiterer Kandidat sah sehr vielversprechend aus, ließ sich jedoch aufgrund der DNA-Probe eines nahen Verwandten ausschließen. Schließlich lief alles auf einen Verdächtigen hinaus. Die Schlinge um Joseph DeAngelo zog sich zu.

Die Nachricht war das Signal, auf das CeCe Moore gewartet hatte. Die 49-Jährige, die im Süden Kaliforniens lebt, hatte sich im Selbststudium Kenntnisse in Genealogie und Genetik angeeignet, die sie bis dahin vor allem in der Familienforschung angewandt hatte. Ihre Facebook-Gruppe TheDNADetectives hat 90.000 Mitglieder, in der Fernsehsendung Finding Your Roots auf dem öffentlichen Sender PBS half sie adoptierten Kindern, ihre leiblichen Eltern zu finden.

Die Methode, die sie dabei anwandte, war identisch mit der von Paul Holes. Und schon des Öfteren hatte sie darüber nachgedacht, die GEDmatch-Daten dazu zu nutzen, Gewalttäter zu identifizieren. Die Suche war unter Genealogen umstritten, weil dabei die genetischen Daten unbeteiligter Menschen ohne deren Zustimmung ausgewertet werden. Nun aber war die Methode publik geworden, und der große öffentliche Aufschrei war ausgeblieben. Ab sofort musste jeder, der seine Gen-Daten öffentlich zugänglich machte, damit rechnen, dass sie auch für polizeiliche Zwecke genutzt werden könnten, sagte sich CeCe Moore.

Sie tat sich mit der Firma Parabon NanoLabs im Bundesstaat Virginia zusammen, die ihre Dienste bereits der Polizei anbot und zum Beispiel Phantombilder aus DNA-Spuren rekonstruierte. Zwei Wochen nach der Festnahme des Golden-State-Killers hatte die Firma ein „Paket“ geschnürt, das sie Strafverfolgern anbot: 5000 Dollar für den Versuch, einen Mörder mithilfe der genetisch-genealogischen Methode zu ermitteln.

Noch im Mai löste CeCe Moore innerhalb von zwei Tagen ihren ersten „kalten“ Fall. Vor 20 Jahren war ein junges kanadisches Pärchen während eines Urlaubs im US-Staat Washington brutal ermordet worden. Moore fand zwei Täter-Verwandte (siehe Grafik) und konnte den heute 55-jährigen mutmaßlichen Mörder identifizieren. Er hatte bis dahin ein völlig unauffälliges Leben geführt.

Liebhaberprojekt nicht als Fahndungsinstrument entwickelt worden

Die Firma Parabon hat seither nach eigener Auskunft in mehr als 150 scheinbar aussichtslosen alten Kriminalfällen die genetische Genealogie eingesetzt. In der Hälfte der Fälle fand man Verwandte, und neben dem Golden-State-Killer konnte mittlerweile in sieben weiteren Fällen ein Tatverdächtiger ermittelt werden. Die neue Technik erweitert das Polizeiarsenal auf ungeahnte Weise. Denn Genetiker schätzen, dass für jeden vierten weißen Einwohner der USA zumindest ein Verwandter zweiten Grades in der GEDmatch-Datenbank zu finden ist – und jeden Tag werden es mehr.

Die Betreiber von GEDmatch wurden von der Entwicklung völlig überrascht. Einer der beiden Gründer, der in Florida lebende 80-jährige Curtis Rogers, sagt: „Die Idee gefiel mir überhaupt nicht.“ Das Liebhaberprojekt war nicht als Fahndungsinstrument entwickelt worden. Ihm war das moralische Dilemma bewusst: das Dingfestmachen von Schwerkriminellen versus Schutz der Privatsphäre der GEDmatch-Mitglieder, die nicht einmal mitbekommen, dass sie bei der Aufklärung von Mord und Totschlag mitwirken.

Rogers hätte nun – wie einige der kommerziellen Gen-Datenbanken – eine Erklärung abgeben können, dass er keine Daten an die Polizei weitergibt. „Aber das wäre Blödsinn“, sagt er. Nicht einmal er selbst kann kontrollieren, ob Ermittler Profile von Verdächtigen unter falschem Namen in seine Datenbank einspeisen. Bis heute hat kein Strafverfolger mit ihm geredet, und auch die Aktivitäten von CeCe Moore und Parabon laufen ohne seine Beteiligung ab. Außerdem betont der Ermittler Paul Holes, dass er und seine Kollegen das verbriefte Recht haben, in schweren Fällen auch verdeckt zu ermitteln.

Um wenigstens Transparenz zu schaffen, hat Rogers die Teilnahmebedingungen für GEDmatch geändert. Dort wird nun den Strafverfolgern ausdrücklich gestattet, die Datenbank zur Aufklärung von Tötungs- und Sexualdelikten zu nutzen. „Wir glauben, dass ein gut informierter Nutzer der beste Weg ist, damit umzugehen. Soll der Markt entscheiden, ob die Leute unsere Website weiterhin nutzen wollen.“ Und der Markt hat entschieden: Nur an einem einzigen Tag in den vergangenen Monaten war die Zahl der Abmeldungen auf GEDmatch höher als die der Neuanmeldungen. Seitdem steigen die Nutzerzahlen wieder, um etwa 1300 pro Tag. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die genetischen Daten der GEDmatch-Nutzer mitnichten frei einsehbar sind. Sie sind verschlüsselt, und nicht einmal die Seitenbetreiber können sie sehen. Wer hier nach Verwandten sucht, bekommt lediglich die Information, wie stark seine SNP-Daten mit denen anderer Nutzer übereinstimmen.

Dass die neue Methode bald auch zur Verfolgung von Bagatellverbrechen genutzt wird, muss schon aus praktischen Gründen niemand befürchten. „Die Sache ist arbeitsintensiv und erfordert eine gewisses Expertenwissen, sodass man das nicht auf harmlosere Verbrechen anwenden wird“, beschwichtigt Holes. „Bei gewöhnlichen Diebstählen macht man ja auch keine konventionelle DNA-Analyse.“

In Deutschland wäre allerdings schon die Zulässigkeit einer Datenbank wie GEDmatch fraglich. „Dabei handelt es sich ja nicht nur um die eigenen Daten, sondern auch um die der direkten biologischen Verwandten“, sagt der frühere schleswig-holsteinische Datenschützer Thilo Weichert. Und auch die verdeckten Ermittlungen wären zumindest fragwürdig. „Für die polizeiliche Recherche bedürfte es meines Erachtens einer expliziten gesetzlichen Grundlage.“

In den USA dagegen ist keine Datenschutzdebatte aufgekommen. Curtis Rogers erzählt von Hunderten von positiven Zuschriften. Eine ganz knappe ging ihm besonders ans Herz. Sie kam von einer Frau: „Ich möchte, dass meine DNA auf Ihrer Website so sichtbar wie möglich ist“, schrieb ihm die Frau. „Mein Vater war ein Serienmörder, und ich möchte dazu beitragen, dass jeder, der von seinen Taten betroffen war, mit der Sache abschließen kann.“

STRS UND SNPS

In DNA-Banken der Polizei werden Profile aus STRs (short tandem Repeats) genutzt. Das sind kurze sequenzen, die hintereinander wiederholt in der DNA auftauchen. sie können einen Spurenleger identifizieren, geben aber keine Auskunft über dessen Eigenschaften. Das FBI hat 16 Millionen stR-Profile gespeichert. In den modernen Geno- typisierungsdatenbanken wie 23andMe ist mehr persönliche genetische Information gespeichert: mehrere Hunderttausend SNPs (single Nucleotide Polymorphisms), bei denen ein einziges Basenpaar von der Norm abweicht. Anhand der Übereinstimmung dieser sNP-Profile lässt sich sehr verlässlich der Verwandtschaftsgrad zweier Personen abschätzen.