Schräge Töne

Zu dem Thema habe ich auch ein 40-minütiges Feature für den Deutschlandfunk produziert, das man hier hören kann!

Die Zeit

Sozialer Kitt, Flirt-Hilfe oder Abfallprodukt der Evolution? Forscher streiten darüber, wozu Musik eigentlich gut ist.

Es gibt keine menschliche Kultur, in der nicht musiziert wird. Schon Babys werden von Musik magisch angezogen, die Musikalität ist offenbar fast jedem Menschen angeboren. Es ist eine faszinierende Fähigkeit: Wir können Töne unterscheiden, deren Frequenzen nur minimal voneinander abweichen. Unser Rhythmusgefühl merkt auf, wenn ein Schlagzeuger mit seinen Beats um ein paar Millisekunden danebenliegt. Und wir erkennen unsere Lieblingssongs schon, wenn wir einen Ausschnitt hören, der nur wenige Zehntelsekunden lang ist. Offenbar hat sich diese Fähigkeit im Lauf der Evolution herausgebildet – aber wozu, welchen Überlebensvorteil bietet sie? Bei der Sprache ist die Sache klar, für die Musik fehlte bislang eine überzeugende Antwort.

„Wenn die bisherigen Erklärungen unbefriedigend sind, kannst du dich beschweren – oder du gehst hin und entwickelst eine befriedigendere Erklärung“, sagt der Musikwissenschaftler Samuel Mehr von der Harvard-Universität. „Ich habe mich für den zweiten Weg entschieden.“ Genau das haben auch andere getan. Und inzwischen gibt es darum gleich mehrere Antworten auf die Frage nach dem evolutionären Ursprung der Musik – und Streit unter Musikforschern und -forscherinnen.

Das Team um Samuel Mehr kam zu dem Schluss, Musik sei ein Mittel, um Kommunikation glaubhafter zu machen. Wenn zum Beispiel eine Gruppe unserer Vorfahren ihren Gegnern signalisieren wollte, wie stark und koordiniert sie war, habe sie das mit einem kraftvoll und harmonisch vorgetragenen Kriegsgesang überzeugender tun können als mit großen Worten. Ganz anders sieht das eine Forschungsgruppe um Patrick Savage von der japanischen Keio-Universität. Sie vermutet, Musik diene vor allem sozialen Bindungen. Für die einen ist Musik also ein Mittel zur Kommunikation nach außen, für die anderen eine Art sozialer Kitt, der das Miteinander fördert.

Die beiden Konkurrenten schickten ihre Theorien an die Zeitschrift Behavioral and Brain Sciences, die das Echo darauf nun veröffentlicht hat: Mehr als 100 Forscherinnen und Forscher äußerten in 60 teilweise sehr ausführlichen Kommentaren ihre Meinung. Die Frage nach dem Ursprung der Musik, sie beschäftigt die Musikwissenschaft.

Der Erste, der versuchte, Musik als ein Ergebnis von natürlicher Auslese zu erklären, war der Vater der Evolutionstheorie selbst, Charles Darwin. Für ihn ähnelte sie dem Gesang der Vögel – der Mensch betreibe sie, „um das andere Geschlecht zu bezaubern“, die Sprache habe sich später daraus entwickelt. Angesichts kreischender weiblicher Boygroup-Fans von den Beatles bis BTS oder des sexualisierten Gehabes von Hardrock-Gitarristen auf der Bühne klingt das nicht so abwegig. Aber die Theorie steht auf wackeligen Füßen: Beim Menschen machen – anders als bei den Vögeln – nicht nur Männer die Musik. Und sie wird längst nicht nur zum Flirten eingesetzt. Wenn es zum Beispiel darum geht, kleine Kinder zu beruhigen oder in den Schlaf zu begleiten, waren traditionell Frauen die Musikerinnen.

Evolutionären Erklärungen verpasste der Linguist Steven Pinker in seinem Buch Wie das Denken im Kopf entsteht einen Dämpfer. Nicht alle Eigenschaften, die sich im Lauf der Evolution herausbildeten, stellten eine Anpassung an äußere Bedingungen dar, schrieb Pinker 1997, sie könnten auch einfach ein Nebenprodukt sein. Die Musik bezeichnete Pinker als „Käsekuchen für das Gehör“, der gewisse Hirnareale angenehm anrege, ansonsten jedoch nutzlos sei. „Musik könnte aus unserer Spezies verschwinden, und der Rest unseres Lebensstils bliebe praktisch unverändert.“

Das hörten die Musikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, von denen die meisten selbst Musiker sind, nicht gerne. Die Musik sollte nur ein zufälliges Abfallprodukt sein? „Pinkers Behauptung hat nichts mit dem Wert der Musik zu tun“, hält Samuel Mehr dagegen, der in Harvard mit Steven Pinker gearbeitet hat. „Wer das glaubt, der hat Stevens Arbeit nicht gelesen – oder zwar gelesen, aber nicht verstanden.“

Trotzdem lehnen die Autorinnen und Autoren um Mehr Pinkers Hypothese von der Musik als Nebenprodukt der Sprachentwicklung ab. Sie sind überzeugt, dass sie einen eigenen Nutzen hat, der über die Möglichkeiten der Sprache hinausgeht. Das gelte nicht nur für Kriegsgesänge, die Stärke und Einheit signalisieren, sondern auch für die Kommunikation zwischen Eltern und Babys: Wenn die Mutter oder der Vater dem schreienden Kind etwas vorsinge, dann signalisierten sie ihm ungeteilte Aufmerksamkeit. Dieses Signal könne nicht von anderen gefälscht werden, das Kind erkenne die elterlichen Stimmen schließlich, kaum dass es auf der Welt ist.

Musik darf man nicht als rein akustisches Signal verstehen

Die Forscher sehen den Gesang also nicht als ein Mittel der emotionalen Bindung zwischen Eltern und Kind, sondern eher als eine Art uraltes Werkzeug zur Fernwartung: Mit dem Singsang können sie ihr Kind beruhigen, während sie mit ihren Händen Steinwerkzeuge anfertigen, Essen zubereiten oder auf der Computertastatur herumtippen.

Die Psychologin Sandra Trehub regt sich auf über diese Erklärung. Die emeritierte Professorin der Universität von Toronto hat sich ihr Leben lang mit der musikalischen Kommunikation zwischen Eltern und Kleinkindern beschäftigt. Musik dürfe man nicht als rein akustisches Signal verstehen, sagt sie: „Man beruhigt Babys nicht, indem man eine Tonaufnahme abspielt. Man nimmt das Baby auf den Arm, bewegt sich – Musik gehört immer in einen Kontext.“

Damit stellt sie sich auf die Seite der zweiten Autorengruppe um den Musikwissenschaftler Patrick Savage, die Musik vor allem als zwischenmenschliches Phänomen sieht. „Eines verbindet all die verschiedenen Situationen, in denen Musik gemacht wird – immer sind andere Menschen beteiligt“, sagt die Musikwissenschaftlerin und Neurobiologin Psyche Loui aus Savages Team. So wie das gegenseitige Lausen bei Affen die soziale Verbundenheit verstärke, schweiße das Musizieren Gemeinschaften zusammen – auch wenn die Gruppe zu groß sei, als dass alle Mitglieder körperlichen Kontakt haben könnten. Dabei gehe es nicht nur ums Wohlfühlen. „Wir glauben nicht, dass Musik die Menschen nur nett zueinander sein lässt“, sagt Loui. „Es gibt Lieder, die Feinde abschrecken sollen. Oder Lieder, die eine Gruppe verbinden und andere Menschen ausschließen.“

Wer hat recht? Die Suche nach den evolutionären Wurzeln der Musik wird durch zwei Umstände erschwert: Erstens haben die frühen musikalischen Aktivitäten keine archäologischen Spuren hinterlassen. Das älteste bekannte Musikinstrument ist eine 35.000 Jahre alte Knochenflöte, die auf der Schwäbischen Alb gefunden wurde. Aber gesungen und getrommelt wurde gewiss viel früher – wie lange, weiß niemand. Und zweitens kann man die Entwicklung der Musikalität nicht entlang des biologischen Stammbaums zurückverfolgen. Unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, sind hoffnungslos unmusikalisch. Und Vögel befinden sich auf einem ganz anderen Ast des Stammbaums, ihre Sangeskunst und ihre erstaunlichen rhythmischen Fähigkeiten müssen unabhängig von unserer Musik entstanden sein.

Die Reaktionen der anderen Forschenden auf die beiden Vorschläge reichen von einer klaren Parteinahme für eine Seite über die Zustimmung zu beiden bis hin zu heftiger Kritik am gesamten Unterfangen. Zu diesen Kritikern gehört Melanie Wald-Fuhrmann vom Max-Planck-Institut (MPI) für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main. „Was in den evolutionstheoretischen Debatten völlig außen vor bleibt, ist der ästhetische Faktor – dass es intrinsisch schön ist, sich mit Musik zu beschäftigen. Die Leute machen das erst einmal um der Musik selbst willen.“

Damit ist sie ganz nahe bei Steven Pinker, der ebenfalls zur aktuellen Debatte einen Beitrag geschrieben hat, Überschrift: Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll. Darin wirft er beiden evolutionären Theorien vor, dass sie unseren heutigen Umgang mit Musik nicht befriedigend erklären könnten. „Die offensichtlichste Eigenschaft von Musik – die Menschen genießen sie – spielt in der Theorie keine Rolle“, schreibt Pinker und hält an seiner Käsekuchen-Hypothese fest: „In der Tat fällt es mir schwer, nachzuvollziehen, wie diese Hypothese nicht wahr sein könnte.“ Wir machten und hörten Musik, weil sie uns Freude bereite – und eine ähnliche Befriedigung verschaffe wie Sex und Drogen, „zwei Beispiele für diejenigen unter Ihnen, die wie ich nicht einmal Käsekuchen mögen“.

Die Musikwissenschaftlerin Melanie Wald-Fuhrmann glaubt: „Musik ist ein menschheitsgeschichtlich spätes Phänomen, in dem Dinge zusammengeflossen sind, die sich unabhängig voneinander entwickelt haben.“ Unser erstaunlich feines Gehör für Klangfarben etwa, mit dem wir die Stimmen unserer Verwandten und Freunde sofort identifizieren können. Unser Talent für Rhythmus, das nach Ansicht einiger Forscher eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Sprache gespielt hat. Und die Fähigkeit unseres Gehirns, zukünftige Entwicklungen vorherzusehen und richtige Vorhersagen zu belohnen, die das Musikhören zum Genuss macht.

Dem würde auch Daniel Levitin von der kanadischen McGill-Universität zustimmen, der eine weitere Idee in die Diskussion eingebracht hat. Der Autor des Bestsellers Der Musikinstinkt beschreibt Musik als ein Instrument zur Weitergabe von Wissen – entstanden nach der Entwicklung der Sprache, aber vor der Erfindung der Schrift. Erzählende Gesänge, Balladen und Moritaten seien schlicht leichter zu behalten als gesprochene Sprache. Demnach hätten unsere Vorfahren ihr musikalisches Arsenal erweitert und perfektioniert, um medizinische Heilpraktiken an ihre Kinder und Enkel weiterzugeben oder die Geschichte ihres Stammes zu überliefern.

Der Forscherstreit ist also noch lange nicht entschieden. Helfen könnten dabei musikethnologische Studien, denn immer noch wird die Debatte geprägt von einem sehr westlichen Musikverständnis, das Musik als „von Menschen organisierter Klang“ auffasst. In anderen Kulturen werde nicht zwischen Klang und Bewegung unterschieden, dort sei Musik ein ganzheitliches, auch körperliches Erlebnis, sagt Melanie Wald-Fuhrmann vom MPI. Auf dieses Defizit immerhin können sich inzwischen alle beteiligten Wissenschaftler einigen.