Auf der Suche nach dem Metaverse

Zeit Online

Unser Autor wollte im neuen Meta-Store das Metaverse ausprobieren, fand aber nur VR-Brillen. Mehr Glück hatte er an einem unvermuteten Ort: im Kinderzimmer seines Sohnes.

Man muss schon wissen, was man sucht. Denn hier, direkt am Wasser der San Francisco Bay, zwischen modernen Bürogebäuden, würde man ein Ladengeschäft nicht vermuten. Nur ein unscheinbares Schild leitet den Weg zum ersten Geschäft von Meta, früher besser bekannt als Facebook. Darauf zu sehen: das Meta-Logo, eine quer gelegte 8, und darunter das Wort „Store“.

Am Montag hat das Geschäft eröffnet, am Tag danach ist der Kundenandrang überschaubar. Ich reihe mich in eine kurze Schlange am Eingang ein, schon nach zwei Minuten werde ich hineingebeten.

Ich bin hergekommen, um mir das Metaversum zeigen zu lassen. Das ist die Technologie, in der Facebook-Gründer und Meta-Chef Mark Zuckerberg die Zukunft sieht: „Es ist das nächste Kapitel des Internets überhaupt“, sagte er kürzlich auf der South-by-Southwest-Konferenz. In seiner Version des Metaversums setzt man sich eine Virtual-Reality-Brille auf und bewegt sich mit einem Avatar, einem virtuellen comicfigurartigen Ich, durch die neue virtuelle Welt.

Meta hat eigens eine Plattform namens Horizon Worlds gebaut und mit der Oculus Quest 2 eine eigene VR-Brille herausgebracht, die die Schnittstelle zum Metaversum sein soll. Das Unternehmen will Entwicklern zudem bald ermöglichen, reale Umgebungen in VR-Apps einzubauen – ein Schritt in Richtung Augmented Reality, in der virtuelle und analoge Welt noch stärker miteinander verschmelzen. Binnen eines Jahres will Meta zehn Milliarden Dollar in seine Metaverse-Division Facebook Reality Labs, die ganz in der Nähe des neuen Meta-Stores liegen, stecken, in Zukunft gar noch mehr. Der Namenswechsel von Facebook zu Meta zeigt, wie zentral diese Vision für die Firma ist.

Die Vision ist, dass wir alle bald diese Welt betreten können. Doch noch werden die begehrten User-Accounts für Horizon Worlds sehr selektiv vergeben, ich habe mich bisher vergeblich darum bemüht. Ich erhoffe mir von meinem Besuch, dass ich das Metaversum hier und heute endlich erleben kann.

Als ich eintrete, fällt mir als Erstes auf, dass der Laden mit etwa 150 Quadratmetern überraschend klein ist. Kein Vergleich mit den opulenten Apple-Stores, die man in vielen Stadtzentren besuchen kann. In den Auslagen findet man die gesamte Hardware-Palette des Facebook-Konzerns: die Videokonsole Meta Portal, die neuen Smart-Brillen, die Meta zusammen mit Ray Ban entwickelt hat und mit denen die Userinnen und User Fotos und Videos schießen können. Und natürlich die VR-Brillen der Meta-Tochter Oculus.

Im hinteren Teil des Ladens steht eine große, gebogene Videowand, vor der sich jeweils eine einzelne Person mit einer Quest-2-Brille postieren kann. Die Umstehenden können sehen, in welcher Welt sich der User oder die Userin bewegt. Ein mittelalter männlicher Kunde gestikuliert wild vor der Wand, auf der Szenen aus der VR-App Supernatural zu sehen sind – einem Fitnessprogramm, bei dem man in malerischer Umgebung geometrische Objekte zerstört und dabei ins Schwitzen kommt.

Man bekommt 15 Minuten Zeit in dieser virtuellen Welt, das nächste verfügbare Zeitfenster ist allerdings erst in drei Stunden. Ich passe – denn ich frage mich, was diese VR-Spiele, die man hier ausprobieren kann, mit dem Metaverse zu tun haben.

Warum das Metaversum größer als eine VR-Welt ist

Um diesen Gedanken zu verstehen, muss man sich erst einmal lösen von der Vorstellung, dass man diese neuen Welten nur mit einer der immer noch klobigen VR-Brillen erfahren kann. Ein Metaversum ist ein „konsistenter und persistenter digitaler Raum“. Diese Definition stammt von Frank Steinicke, Professor für Mensch-Computer-Interaktion an der Universität Hamburg. „Konsistent“ bedeutet, dass es dort nicht nur ein einziges Spiel gibt. Und „persistent“ heißt: Die Welt besteht weiter, auch wenn ich mich daraus zurückziehe. Sie wird bevölkert von anderen Menschen und wenn ich morgen wiederkomme, hat sich einiges darin verändert.

Das heißt nicht, dass man das Metaversum heute nicht schon erfahren kann. Nur hätte ich dafür nicht die Fahrt nach Burlingame antreten müssen. Denn das Metaversum liegt gewissermaßen im Kinderzimmer meines zehnjährigen Sohnes.

Legt man die Definition von Frank Steinicke an, dann sind heute schon Millionen Kinder und Jugendliche im Metaversum unterwegs: in Computerspiel-Welten, allen voran Roblox, Minecraft und Fortnite. Die drei haben zusammen etwa 380 Millionen aktive Userinnen und User. Auch mein Sohn würde sich dort am liebsten rund um die Uhr herumtreiben, wenn seine Zugangszeiten nicht streng reguliert wären. In Roblox und Minecraft kann man seine eigenen Welten und Spiele programmieren, vom brutalen Ballerspiel bis zur virtuellen Modenschau. Und man trifft ständig auf fremde Nutzerinnen und Nutzer – was für Bedenken tragende Eltern natürlich auch ein Grund zur Sorge ist.

Natürlich ist die Hauptattraktion dieser Spielewelten, die man per Smartphone, Tablet oder Desktop-Computer besuchen kann, das jeweilige Spiel. Aber schon seit Langem bilden sich rund um Computerspiele Gemeinschaften, in denen sich die Gamerinnen und Gamer auch über andere Dinge austauschen. Und erfüllt damit in Ansätzen die Definition eines Metaversums.

Diese Metaversen sind in ihren Nutzerstrukturen sehr beschränkt. Menschen, die älter als 14 Jahre sind, findet man bei Roblox und Minecraft kaum – offenbar verlieren die Welten nach der Pubertät schnell ihren Reiz. Das ist schon einmal der erste Anhaltspunkt dafür, dass es gar nicht so leicht sein wird, Erwachsene in große Zahl ins Metaversum zu locken. Zumindest mit den bisherigen Plattformen.

Wer das Internet schon etwas länger verfolgt, der denkt bei Mark Zuckerbergs Metaversum-Präsentation womöglich an eine schon etwas länger zurückliegende Spielewelt: Second Life. Diese virtuelle Welt wurde 2003 von der Firma Linden Lab erschaffen und versprach eigentlich genau das, was uns jetzt wieder als attraktiv hingestellt wird: eine zweite Welt im Cyberspace, in dem sich unsere Avatare dauerhaft ansiedeln konnten – mit eigenem Häuschen, Grund und Boden, digitalen Geschäften. Ein paar Jahre lang gab es einen Second-Life-Hype, namhafte Firmen eröffneten dort Filialen. Das Fantasieland hatte eine eigene Währung, den Linden-Dollar, den man gegen echtes Geld eintauschen konnte. Irgendwann verließen wieder viele Nutzerinnen und Nutzer die Plattform, Second Life verschwand aus den Schlagzeilen.

Ich verabrede mich im echten Leben mit Philip Rosedale, dem Erfinder von Second Life. Von ihm will ich wissen, was daraus geworden ist – und was er von heutigen Metaverse-Plänen hält.

Bei einem Kaffee im Alta Plaza Park hoch über der Skyline von San Francisco erzählt mir der 53-jährige Unternehmer, dass seine Schöpfung alles andere als tot sei. Die Straßen der virtuellen Welt seien nicht verwaist, etwa eine halbe Million Menschen lebten noch dort, zu jeder Zeit seien etwa 50.000 von ihnen eingeloggt. Und der Kurs des Linden-Dollars gegenüber dem US-Dollar sei stabil.

Werden wir bald alle im Metaversum arbeiten?

Dass die Userinnen und User dort leben, meint Rosedale ernst. „Sie haben sich aus unterschiedlichen Gründen dazu entschieden, vorwiegend in der virtuellen Welt zu leben und nicht in der realen.“ Was für Menschen sind das? Zum Beispiel Menschen mit Behinderungen, die ihre eigenen vier Wände nicht ohne fremde Hilfe verlassen können. Personen, die dort eine andere Identität ausleben wollen. Bewohnerinnen autoritärer Staaten, die sich nur in der virtuellen Welt frei entfalten können. Oder allein lebende Menschen in ländlichen Gegenden, die weit fahren müssten, um physischen Kontakt mit anderen zu haben.

Und offenbar haben die Bewohner von Second Life all die Jahre recht friedlich miteinander gelebt. Während in den sozialen Netzwerken über Filterblasen, Radikalisierung und Fake News debattiert wurde, ist Second Life, jedenfalls laut Auskunft seines Schöpfers, davon verschont geblieben. Philip Rosedale hat auch eine Erklärung dafür: Er ist ein vehementer Gegner von Algorithmen, die entscheiden, was den Nutzerinnen und Nutzern präsentiert wird – getrieben vom Geschäftsmodell der Plattformen, das auf personalisierter Werbung basiert. In Second Life gibt es keine Werbung und keine Nutzersteuerung per künstlicher Intelligenz, und der größte Teil der Interaktion geschieht im öffentlichen Raum. „Du kannst auch in Second Life ein Extremist sein, aber dann kommen vielleicht Leute bei dir zu Hause vorbei und fragen: Was treibst du da eigentlich?“, sagt Rosedale. Und das nehme vielen potenziellen Konflikten die Spitze.

Für Rosedale wäre es eine Horrorvorstellung, wenn das zukünftige Metaversum von Facebook und anderen Firmen betrieben würde, deren Geschäft auf der Ausbeutung von Userdaten beruht. In virtuellen Welten ist das Wissen der Betreiber über ihre Nutzer total, jeder Schritt kann überwacht, jeder Blick verfolgt werden. „Ein Metaversum, das auf Anzeigen beruht, ist eine schreckliche Idee“, sagt Philip Rosedale, „eine existenzielle Bedrohung.“ So wie das exponentielle Wachstum des Internets vor 30 Jahren nur beginnen konnte, weil offene Standards die Grundlage waren, sollte auch das Metaversum – oder die Metaversen – auf solchen Vereinbarungen beruhen und kein umzäunter Garten eines einzelnen Betreibers sein.

Rosedale hat Linden Lab im Jahr 2010 verlassen und gründete später eine neue Firma namens High Fidelity, die sich mit dem Design der Audio-Umgebung virtueller Welten beschäftigt. Nun berät er seine alte Firma wieder, er ist gespannt darauf, ob das zweite Leben im Cyberspace im zweiten Anlauf wirklich zum Massenphänomen wird.

Ganz offenbar setzt Meta darauf, die virtuellen Umgebungen im Berufsleben einzusetzen. Die Covid-Jahre haben gezeigt, dass Menschen von zu Hause produktiv arbeiten können. Gleichzeitig sind sie hochgradig genervt von der Kommunikation per Videokonferenz, die nur ein schaler Ersatz für den persönlichen Austausch in der realen Welt ist. In Zuckerbergs Vision sitzen wir zu Hause mit unseren VR-Brillen, unsere Avatare treffen sich in virtuellen Konferenzräumen und tauschen sich auf eine natürlichere Art aus, als dies auf Zoom je möglich wäre.

Ist das die Killer-Anwendung fürs Metaversum? „Ich glaube, das wird irgendwann geschehen“, sagt der Second-Life-Gründer. „Aber nichts von dem, was Facebook heute zeigt, kann das schon leisten.“ Das beginne schon bei den VR-Brillen. Die seien nicht nur unbequem. Ein grundsätzliches Problem der Headsets sei bis heute nicht gelöst. „Wir wissen nicht, wie wir der Übelkeit begegnen sollen.“ Vielen Leuten, die an solchen Meetings teilnähmen, werde spätestens nach 20 Minuten schlecht.