Zum dem Thema habe ich auch ein Radiofeature für SWR2 Wissen produziert.
Dass es Disney 100 Jahre nach seiner Gründung noch gibt, grenzt an ein Wunder. Mehrfach stand der Konzern am Rand der Pleite.
Disneyland, der Vergnügungspark im Süden Kaliforniens, an einem Wochenende im September. Tausende spazieren die Main Street USA entlang, auf die jeder Besucher als Erstes geleitet wird. Vor allem Familien mit Kindern, die meisten mit Mausohren oder anderen Disney-Accessoires ausgestattet. Aber an diesem Tag sieht man auch auffällig viele Menschen in roten T-Shirts. Damit weisen sie sich als Besucher der „Gay Days“ aus – Schwulen- und Lesbentage im zuckersüß-spießigen Ambiente einer amerikanischen Kleinstadt um die vorletzte Jahrhundertwende.
Man könnte das als einen Kommentar zu dem Streit sehen, den der Disney-Konzern gerade am anderen Ende der Vereinigten Staaten, in Florida, mit dem republikanischen Gouverneur Ron DeSantis austrägt: Disney hatte das von DeSantis initiierte Gesetz kritisiert, dem zufolge in Schulen bis zur dritten Klasse nicht über Homosexualität gesprochen werden darf. Daraufhin strich DeSantis dem Konzern steuerliche Privilegien in Florida. Der wiederum konterte mit einer Klage und stoppte ein Immobilienprojekt, das 2000 Menschen in Florida Arbeit gegeben hätte.
Disney wird in diesen Tagen 100 Jahre alt. Dass die USA aufmerken, wenn sich der Konzern mit einem erzkonservativen Politiker anlegt, liegt auch daran, dass Disney sich in seiner ganzen Geschichte selbst als Hüter traditioneller amerikanischer Familienwerte inszeniert hat. Gute Geschichten konnte das Unternehmen eben immer schon erzählen, auch wenn einige davon arg übertrieben waren, zum Beispiel die vom unaufhaltsamen unternehmerischen Erfolg. Dass Disney bis heute besteht, hat mit seinem Stellenwert als nationale Institution zu tun – und mit dem penibel gepflegten Nimbus des Gründers. „Walt Disneys größte Schöpfung war Walt Disney“, schrieb der Filmkritiker Richard Schickel schon 1968.
Zwar ist Walt Disney inzwischen länger tot, als er an der Spitze seines Imperiums stand (er starb 1966). Zudem umfasst es heute viel mehr als die Zeichentrick-Sparte, die bis zu Schneewittchen und die sieben Zwerge von 1937 zurückreicht. Trotzdem kann man das Phänomen Disney nur verstehen, wenn man sich mit Walts Biografie auseinandersetzt. Dazu muss man über die verherrlichenden Hymnen hinausschauen, die der Konzern bis heute verbreitet.
Der Gründer war eine widersprüchliche Figur: nach außen der gemütliche „Uncle Walt“, der in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wöchentlich auf den Bildschirmen der Nation erschien. Nach innen ein eifersüchtiger Kontrollfreak, der reaktionären Meinungen anhing und seine Mitarbeiter drangsalierte.
Seine Jugend unterschied sich radikal von der idyllischen Main Street USA in den Freizeitparks. Sein Vater scheiterte in mehreren Jobs, die Familie zog ständig um, und Walt erfuhr das kleinstädtische Leben in Marceline im US-Staat Missouri nur ein paar Jahre lang. Schon als Neunjähriger trug er morgens ab halb vier Zeitungen aus – nicht zur Aufbesserung seines Taschengelds, sondern um Löcher im Familienbudget zu stopfen. Man kann die Verklärung und Verschmalzung des Familienidylls in Disneys Werken als Suche nach der unschuldigen Kindheit verstehen, die er selbst nicht hatte.
In Jubel-Biografien wird Walt Disney als genialer Künstler und cleverer Geschäftsmann geschildert, ein klassischer amerikanischer Selfmademan. In Wirklichkeit war er wohl weder das eine noch das andere. Er war eher der kreative Typ, denn die Geschäfte führte sein Bruder Roy.
Zu dessen Leidwesen nahm Walt bei seinen Filmprojekten wenig Rücksicht auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Animationsfilme, insbesondere die abendfüllenden Spielfilme wie Bambi oder Fantasia, waren aufwendig und teuer. Sie machten Disney berühmt, hatten auch Erfolg beim Publikum, spielten aber ihre Produktionskosten nicht ein. Mit jedem neuen Filmprojekt lief die Firma ernsthaft Gefahr, sich zu übernehmen.
Eine Stärke von Walt Disney war allerdings die eiserne Kontrolle, mit der er alle seine Kreationen schützte und vermarktete. Nach schlechten Erfahrungen mit einem Produzenten, der ihm alle Rechte an der erfolgreichen Figur Oswald, der lustige Hase genommen hatte, schwor sich Disney 1928, dass ihm das nie wieder passieren würde. Er behielt recht.
Finanziell erfolgreich wurde die Firma erst nach dem Krieg
Micky Maus hatte in jenem Jahr Premiere in dem Kurzfilm Steamboat Willie. Im Lauf der Jahre hat der Konzern durch geschickte Lobbyarbeit dafür gesorgt, dass der amerikanische Kongress das Urheberrecht immer weiter verlängert hat. Erst Ende 2023, also nach 95 Jahren, läuft der Schutz für Steamboat Willie aus. Konzernjuristen haben schon Kindergärten mit Klagen gedroht, die ihre Wände mit Disney-Figuren geschmückt hatten.
Roy Disney erkannte schon in den frühen Jahren der Firma, dass man die Popularität der Trickfiguren mit Merchandising zu Geld machen konnte. Bereits 1932 hatte der Micky-Maus-Fanclub eine Million Mitglieder. Donald Ducks Konterfei prangte auf den Verpackungen von Brot, Erdnussbutter und Orangensaft. Fans konnten Schneewittchen-Radios kaufen und sich sogar nach dem Vorbild der Titelheldin in ein Schneewittchen-Korsett zwängen.
Im April 1940 gab Disney Aktien aus und erlöste damit knapp vier Millionen Dollar. Das rettete das Unternehmen, das bis dahin noch nicht nachhaltig profitabel geworden war. Im Zweiten Weltkrieg jedoch brach das Auslandsgeschäft ein, und der Aktienkurs sank um 40 Prozent. Walt Disney nahm das in Kauf. Als Patriot produzierte er für die Regierung Propagandafilme zum Selbstkostenpreis. So veralberte Donald Duck in Der Fuehrer’s Face Adolf Hitler.
Finanziell erfolgreich wurde die Firma erst nach dem Krieg – durch Walt Disneys Sinn für Innovationen. Er arrangierte sich als einer der Ersten mit dem neuen Medium Fernsehen, als andere Filmproduzenten darin noch eine Konkurrenz sahen. Und er brachte den Fernsehsender ABC (der heute zu Disney gehört) dazu, 1955 gemeinsam den ersten Vergnügungspark zu eröffnen. Vor allem die Einnahmen aus Disneyland waren dafür verantwortlich, dass der Umsatz des Konzerns binnen fünf Jahren von 27 auf 70 Millionen Dollar stieg.
Was macht eine ideale Disney-Geschichte aus? Die Medienwissenschaftlerin Janet Wasko von der University of Oregon hat das in ihrem Buch Understanding Disney – The Manufacture of Fantasy analysiert: Es gibt immer eine klare Trennung der Charaktere in Gut und Böse. Insbesondere die weiblichen Helden sind schlank und hübsch, die Widersacher dick (oder spindeldürr) und hässlich. Die Heldinnen und Helden träumen von einem anderen Leben und erreichen es im obligatorischen Happy End. Sehr häufig stammen Disneys Titelfiguren aus dysfunktionalen Familien oder wachsen ohne Eltern auf. „Sie wollen jemand anderes oder woanders sein“, sagt Wasko im Gespräch.
Der Begründer der Gay Days in Disneyland sieht darin sogar einen Grund, warum so viele LGBT-Menschen Disney-Fans sind: „Viele Schwule sind mit dem Gefühl aufgewachsen, Außenseiter zu sein. Und in Disney-Geschichten sind die Helden fast immer Außenseiter, die ihren Weg machen, von Dumbo bis Arielle.“
Oft hat Disney Märchengeschichten aufgegriffen, von den Brüdern Grimm und von Hans Christian Andersen, und dabei die Originale kräftig umgeschrieben und „disneyfiziert“. Die Märchengeschichten von Disney seien „auf eine unreflektierte Betrachtung ausgerichtet“, schrieb der Literaturwissenschaftler Jack Zipes, „alles ist oberflächlich und eindimensional“. Während zum Beispiel Andersens „Kleine Meerjungfrau“ am Ende der Geschichte stirbt, bekommt die Arielle in Disneys Filmen selbstverständlich ihren Prinzen.
Trotz des klischeehaften Endes markiert der erste Arielle-Film von 1989 aber auch eine Wende im Frauenbild, das von Disney-Produktionen gezeichnet wird. „Arielle ist ein sinnlicher, aggressiver, schelmischer, abenteuerlustiger, kluger und unabhängiger Teenager“, schreibt Janet Wasko, „im Gegensatz zu Schneewittchen, die schüchtern, gehorsam, zögerlich, naiv, unschuldig und mütterlich ist.“ Das gilt verstärkt für die schwarze Arielle im Remake des Films von 2023.
Nach Walt Disneys Tod 1966 fiel die Firma in eine Sinnkrise, die bis in die Achtzigerjahre andauerte. Man restaurierte die alten Filme und brachte sie immer wieder in die Kinos, aber es fehlte an neuen Ideen. Die Firma verfügte über viele populäre Marken und einen riesigen Katalog von Filmen und anderen Inhalten, aber das spiegelte sich nicht im Aktienkurs wieder. Anfang der Achtzigerjahre versuchte sogar ein Finanzinvestor eine feindliche Übernahme.
Ist Disney heute eine fortschrittliche Firma?
Andreas Deja, ein aus Deutschland stammender Animator, der in diesen Jahren bei Disney anfing, erinnert sich an die Zeit, als Michael Eisner neuer Vorstandschef wurde und Jeffrey Katzenberg die Verantwortung für die Filmsparte übernahm: „Die mochten den Zeichentrickfilm gar nicht und wollten aus Disney ein ganz normales Filmstudio machen.“
Das änderte sich, als Roy Disney ein Machtwort sprach. Man besann sich auf Disneys alte Stärken, und ein neues goldenes Zeitalter des Trickfilms brach an, zu dem Andreas Deja viele Figuren bei- gesteuert hat. Filme wie Falsches Spiel mit Roger Rabbit, Arielle, die Meerjungfrau, Die Schöne und das Biest wurden nicht mehr als reine Kinderfilme wahrgenommen, sondern als Hollywood-Streifen für die ganze Familie.
Dass Disney sich neuen Themen zuwandte, hatte auch damit zu tun, dass Mitte der Neunzigerjahre Bewegung in die Trickfilm-Szene kam, technisch und inhaltlich. Die von Apple gegründete Firma Pixar brachte mit Toy Story den ersten komplett im Computer animierten Trickfilm heraus. Pixar machte Filme, die weit weniger brav waren als das Disney-Schema. Der kreative Kopf von Pixar, John Lasseter, hatte zuvor in den Walt Disney Studios gearbeitet.
Mit der neuen Konkurrenz ging Disney in streng kapitalistischer Manier um, kopierte sie zunächst und kaufte Pixar schließlich im Jahr 2006. Das war nicht der einzige spektakuläre Deal: Im Jahr 1995 übernahm die Firma den Fernsehsender ABC, 2009 das Marvel-Universum mit seinen Superhelden, 2012 das Star Wars-Imperium von Lucasfilm. Als Disney 2019 für 71 Milliarden Dollar große Teile von 21st Century Fox kaufte und damit auch die Mehrheit beim Streamingdienst Hulu, nannte die New York Times den Medienkonzern „einen Unterhaltungskoloss von einer Größe, die die Welt noch nicht gesehen hat“.
„Ich nenne es das Disney-Multiversum“, sagt Janet Wasko. Die einzelnen Sub-Universen ergänzten einander auf ideale Weise: Star Wars und Marvel folgten mit ihrer holzschnittartigen Moral dem Modell von Disney-Geschichten, aber sie könnten auch außerhalb der Kernmarke „erwachsenere“ Inhalte bieten und ein Publikum ansprechen, das traditionelle Disney-Filme eher uncool findet.
Ist Disney heute eine fortschrittliche Firma? „Sie reagieren auf gesellschaftliche Veränderungen“, sagt Janet Wasko. „Die Darstellung von Frauen und Minderheiten hat sich verbessert. Aber etwas sträubt sich in mir, die Firma als fortschrittlich zu bezeichnen.“ Sie spricht lieber von einem „revidierten Disney-Modell“, das heute die Geschichten der Filme präge. „Und wie sie ihre Mitarbeiter behandeln, das steht auf einem ganz anderen Blatt.“
Schon Walt Disney musste sich vorwerfen lassen, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schlecht zu bezahlen. Die Enkelin seines Bruders Roy, die Dokumentarfilmerin Abigail Disney, schilderte die Arbeitsbedingungen in den Disney-Vergnügungsparks im vergangenen Jahr in ihrem Film The American Dream and Other Fairy Tales („Der amerikanische Traum und andere Märchen“): Die zu ständiger Freundlichkeit verpflichteten Mitarbeiter, die in dicken Micky-Maus-Kostümen schwitzen oder die Parkplätze überwachen, werden mit weniger als 20 Dollar pro Stunde entlohnt – weniger als das, was zum Beispiel in Kalifornien als Existenzminimum angesehen wird.
Im Jahr des 100. Geburtstags laufen die Geschäfte wieder einmal unruhig. Zwei der letzten drei großen Animationsfilme – Strange World und Lightyear – floppten. Das traditionelle Fernsehgeschäft geht dramatisch zurück, der Streamingkanal Disney+ hat zwar schnell viele Abonnenten gewonnen, macht aber gewaltige Verluste – allein im vergangenen Quartal mehr als eine halbe Milliarde Dollar.
Erneut klaffen Popularität und Geschäft bei Disney auseinander. Der Aktienkurs hat sich seit 2021 glatt halbiert. Schon im vergangenen November feuerte der Konzern Vorstandschef Bob Chapek und berief dessen Vorgänger Bob Iger zurück an die Spitze. Der 72-Jährige war eigentlich schon im Ruhestand. Nun versucht er, mit einem großen Sparprogramm den Medienkonzern in die Zukunft zu retten. Wieder einmal.