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Chevron-Doktrin: Interessengruppen wollen die Exekutive schwächen

Research Table

Bis Juni entscheidet der Supreme Court in den USA über die Chevron-Doktrin. Sollten die Richter die Entscheidung kippen, werden zahlreiche Streitfälle nicht mehr durch das Parlament entschieden. Der von Trump eingesetzte Richter Brett Kavanaugh würde den Schritt begrüßen. Experten warnen vor chaotischen Zuständen.

Auf den ersten Blick ist es ein wenig bedeutsamer Streit, der vor dem Obersten
Gerichtshof
der USA verhandelt wird: Zwei Fischereibetriebe klagen dagegen, dass sie auf ihren Ausfahrten nicht nur einen Inspekteur der nationalen Aufsichtsbehörde mitnehmen müssen, der ihren Fang überwacht. Sie sollen dafür auch noch 700 US-Dollar pro Tag bezahlen. Diese Inspektionen sind gesetzlich vorgeschrieben, aber die Gebühr hat die Behörde selbst festgelegt. Und dazu, so die Kläger, habe sie kein Recht.
Aber die Verhandlung vor dem Supreme Court, der seine Entscheidung wohl vor Juni fällen wird, genießt eine große Aufmerksamkeit, weil sie Auswirkungen weit über die konkreten Fälle hinaus haben wird. Schlägt sich das Gericht auf die Seite der Kläger, dann hebt es damit eine Entscheidung auf, die es im Jahr 1984 gefällt hat: die sogenannte „Chevron Deference“. Damals ging es um die Auslegung eines Gesetzes über Schadstoffemissionen, und die Verfassungsrichter sagten: Wenn das Gesetz, das dem Handeln einer Behörde zugrunde liegt, unklar, mehrdeutig oder lückenhaft ist, dann sollen nicht Gerichte über die Interpretation entscheiden, sondern die Regierungsbehörden, die mit der Anwendung der Gesetze betraut sind – solange diese Interpretation „vernünftig“ und „zulässig“ ist. Diese Doktrin ist seit jeher vor allem großen Industriefirmen ein Dorn im Auge. Ohne „Chevron“ wäre es leichter, jede behördliche Entscheidung, zum Beispiel über Emissions-Grenzwerte, vor Gericht anzufechten.

USA: Große Abneigung gegenüber Regierungsinstitutionen

Überall auf der Welt gibt es ein Dilemma zwischen der gesetzgeberischen Kompetenz
der Parlamente und der komplexen Wirklichkeit. Kein Gesetz kann jeden möglichen Einzelfall vorhersehen, daher müssen Behörden es mit Inhalt füllen, indem sie Bestimmungen erlassen. Zumal sich die Wirklichkeit ständig ändert, neue Giftstoffe identifiziert werden oder Pandemien ausbrechen. Eine funktionierende Exekutive muss handeln können, ohne dass jedes Mal der Gesetzgeber erneut in Aktion treten muss.
Überall auf der Welt gibt es deshalb auch Vorbehalte gegen einen
wachsenden bürokratischen Apparat, der seine eigenen Regeln schreibt und immer mehr Kompetenzen an sich reißt. In der Europäischen Union wird gern über den Brüsseler Amtsschimmel geklagt, der den Krümmungsgrad von Gurken oder die Zusammensetzung des Glühweins auf dem Weihnachtsmarkt regelt. Aber wohl nirgendwo ist die Abneigung gegen Regierungsinstitutionen so stark wie in den USA.
„Es geht um das Narrativ, dass die Regierungsbürokratie, der Deep State‘, den Kleinen Mann unterdrückt“, sagt Jody Freeman, Professorin für Umweltrecht an der Harvard-Universität, im Interview mit Table.Briefings. Freeman war Beraterin für Energie- und Klimafragen unter Präsident Obama und gehört zu den angesehensten Umweltrechtsexperten der USA. „Das zweite Narrativ, das vor allem von einigen Supreme-Court-Richtern vorgebracht wird:
Die Exekutive maßt sich zu viel Macht an, die eigentlich dem Kongress zukommt, und das Gericht soll die Balance wiederherstellen.“ In Wirklichkeit gehe es aber weder um hehre Verfassungsprinzipien noch um die armen Fischer. Konservative Juristen würden diesen Fall mit viel Geld unterstützen, unter anderem von den berüchtigten Koch Industries, um die Legitimität der Regierungsinstitutionen infrage zu stellen und sie letztlich zu schwächen.

Keine Stabilität: Trump stieg aus dem Pariser Klimaabkommen aus, Biden wieder ein

Insbesondere das Argument, die Macht müsse von den Bürokraten hin zu den gewählten Volksvertreterinnen und Volksvertretern verschoben werden, fiel bei der ersten dreieinhalbstündigen Vorverhandlung im Supreme Court auf fruchtbaren Boden. Zumindest bei den konservativen Richtern, die dort eine Mehrheit von sechs zu drei haben. So wetterte der von Präsident Trump eingesetzte Richter Brett Kavanaugh nicht ausdrücklich gegen die Regierungsbehörden, sondern vor allem gegen das Phänomen, dass die Präsidenten zunehmend per Erlass regieren würden, ohne sich eine Kongressmehrheit für ihr Handeln suchen zu müssen. Präsident Trump steigt aus dem Pariser Klimaabkommen aus, sein

Nachfolger Biden tritt wieder bei. Auch ein großer Teil der Klimaschutzmaßnahmen der Biden-Regierung basiert auf präsidialen Erlassen. „Alle vier oder acht Jahre, wenn eine neue Regierung antritt, wird das System erschüttert“, sagte Kavanaugh, egal, ob es sich um Wettbewerbsrecht oder Umweltrecht handele. „Das ist keine Stabilität.“

Dem hält die Juristin Freeman entgegen, dass der Kongress durchaus die Freiheit habe, neue Gesetze zu beschließen und die Interpretationsfreiheit der Behörden zu beschränken. „Der Kongress hat viele Möglichkeiten, sich die Macht zurückzunehmen, wenn er das will.“ Nur sei das US-Parlament ein völlig dysfunktionaler Gesetzgeber, der nicht einmal einen Haushalt beschließen könne. „Die Vorstellung, dass der Kongress Gesetze zum Umweltschutz, zur Regulierung von Lebens- und Arzneimitteln, zu Aktienmärkten und Verbraucherschutz regelmäßig aktualisieren kann, wenn ein neues Problem auftaucht – das ist ein Hirngespinst. So funktionieren eine moderne Wirtschaft und eine moderne Gesellschaft nicht.“

In diese Richtung argumentierte auch die liberale Verfassungsrichterin Elena Kagan in der Verhandlung. Sie brachte das Beispiel der Künstlichen Intelligenz – gerade auf dem Gebiet der Regulierung von Tech-Unternehmen tun sich die US-Parlamentarierinnen und – Parlamentarier schwer. „Der Kongress kann bei diesem Thema kaum eine Woche in die Zukunft sehen, geschweige denn ein Jahr oder ein Jahrzehnt“, sagte sie. „Will der Kongress, dass dieses Gericht über die politikrelevanten Fragen der KI entscheidet?“

Chevron Deference wird vielleicht nicht komplett kassiert

Damit sprach Kagan eine wahrscheinliche Konsequenz der höchstrichterlichen Entscheidung an: Sollten die Richter die Chevron-Doktrin kippen, wird nicht etwa das Parlament eine Serie neuer Umwelt- und Verbraucherschutzgesetze erlassen. Stattdessen werden viele Streitfälle zunächst vor lokalen Bundesrichtern, dann vor Appellationsgerichten und schließlich beim Supreme Court landen. Die nicht direkt legitimierten Richterinnen und Richter würden zu Entscheidern in politischen Fragen. „Das wird sehr chaotisch werden“, sagt Freeman, „aber unter dem Strich wird Regulierung erschwert und die Agenturen werden außer Gefecht gesetzt – und darum geht es ihnen.“

Wenn die Chevron-Doktrin fällt, dann haben die insgesamt 850 Bundesrichter im ganzen Land das Sagen in Streitfällen etwa zum Umweltrecht – und je nach deren politischer Ausrichtung werden die Urteile sehr unterschiedlich ausfallen. Die oberste Umweltbehörde EPA ist zuständig für die Umsetzung und Konkretisierung von mehr als 40 wichtigen Gesetzen, vom Clean Water Act bis zum Atomic Energy Act. Manche Expertinnen und Experten befürchten, dass große Firmen sogar alte Verfahren wieder aufrollen könnten, um industriefreundlichere Urteile zu bekommen. Und auch der Inflation Reduction Act
(
IRA) könnte verwässert werden: Denn ob seine Umsetzung wirkliche Effekte hat, hängt von den Details der Ausführungsbestimmungen ab.

Allerdings wird das Verfahren kein einfacher Durchmarsch der Kläger werden. Zwei der sechs konservativen Richterinnen und Richter sind noch nicht davon überzeugt,
das Präzedenzurteil von 1984 zu revidieren – so wie es das aktuelle Gericht bei den jüngsten Entscheidungen über Abtreibung und Affirmative Action getan hat. „Wie sehr stellt sich diese Frage tatsächlich vor Ort?“, fragte der vorsitzende Richter John Roberts. Und Amy Coney Barrett, eine ebenfalls von Trump eingesetzte Richterin, befürchtet eine Flut von Gerichtsverfahren, falls auch Entscheidungen aus der Vergangenheit wieder aufgerollt werden sollten.

Statt Demut: Wirft der Supreme Court alle Bescheidenheit über Bord?

Manche Experten halten es für vorstellbar, dass das oberste Gericht die Chevron
Deference
nicht komplett kassiert, sondern strengere Vorgaben für die Richter macht, die Entscheidungen an die Behörden delegieren. Schon jetzt müssen die Gerichte vor einem solchen Beschluss prüfen, ob das Gesetz tatsächlich einen Interpretationsspielraum bietet und ob die Auslegung der Behörden nachvollziehbar ist. Wie eine solche schwächere Form von Chevron aussehen könnte, ist noch unklar.
Die ursprüngliche Chevron-Doktrin von 1984 sei auch keine wirkliche rechtliche Regel, sagt Freeman, sondern eher Ausdruck einer grundsätzlichen Haltung. „Die sagt den Behörden im Prinzip: Wir respektieren euch und überlassen euch die tagtäglichen Entscheidungen. Das setzt einen Ton der Demut für die unteren Gerichte. Jetzt ist der Supreme Court bereit, jegliche Bescheidenheit über Bord zu werfen und zu sagen: Alle Rechtsfragen sind unsere Sache.“

Debatte um den Weg zum Wasserstoff

Deutschlandfunk

Die USA waren lange Zeit ein Bremser, was Maßnahmen zum Klimaschutz angeht. Nun aber hat Präsident Biden ein Milliardenprogramm zur Förderung einer klimafreundlichen Energiewirtschaft angestoßen, den Inflation Reduction Act, kurz IRA. Insbesondere soll die Produktion von Wasserstoff angekurbelt werden. Aber der Teufel steckt im Detail.

Unter welchen Umständen bekommt Wasserstoff das Label “grün”, das ihm bescheinigt, zu 100 Prozent mit Wind- und Sonnenenergie hergestellt worden zu sein? Diese Bestimmungen muss die US-Steuerbehörde noch ausarbeiten, und zurzeit tobt ein Streit darüber. Sind sie zu restriktiv, könnte das den Ausbau der Wasserwirtschaft behindern. Sind sie zu lax, könnte sogar mehr CO₂ausgestoßen werden als mit konventionellen Methoden …

Leben im Grünen, ein Spiel mit dem Feuer

Zeit Online

Jedes Jahr brennen Häuser ab, der Klimawandel verstärkt die Waldbrände. Warum bauen Kalifornier weiter Holzhäuser am Waldrand? Aus guten Gründen, sagt ein Feuerforscher.

Die Menschen in Kalifornien – sie sind bekannt für ihre Zuversicht. Doch im Moment ist die Stimmung auf dem Nullpunkt, selbst bei denjenigen, die nicht direkt vom Feuer betroffen sind – in San Francisco etwa. Seit einem halben Jahr sind sie durch den Lockdown aufgrund der Corona-Pandemie weitgehend ans Haus gefesselt, der Qualm, der von den mehr als 7.000 Brandherden im Staat herüberweht, macht nun auch gelegentliche Ausflüge in die Natur unmöglich. In San Francisco wurde es am vergangenen Mittwoch gar nicht erst hell, der rötliche Dämmerzustand erinnerte an Szenen aus dem dystopischen Science-Fiction-Film Blade Runner 2049.

An den Tagen danach war die Sonne wieder zu sehen, dafür stieg die Partikelbelastung der Luft an und pendelt seitdem zwischen den Alarmstufen Rot und Violett. In das Entsetzen über die Feuersbrünste und das Mitgefühl mit denen, die gerade ihre Häuser verlieren oder verlassen müssen, mischt sich in diesen Tagen auch der verbreitete Spruch: selbst schuld! Wer am Rand der trockenen Wälder baut, noch dazu ein US-übliches Holzhäuschen, der muss sich nicht wundern, wenn bei einem der periodisch auftretenden Waldbrände das Eigenheim in Flammen aufgeht. Die Natur strafe solchen Leichtsinn umgehend ab.

Wenn er solche Sprüche hört, wird Keith Gilless ungehalten

Der Irrsinn und die Abfalleimer


Die Zeit

Von Christoph Drösser und Max Rauner

In der kommenden Woche startet eine große Kampagne, um die Deutschen zu besseren Mülltrennern zu erziehen. Dabei krankt unser Recyclingsystem an ganz anderen Problemen. Das Beispiel USA zeigt, wie es besser geht.

„Papa, kommt die alte Zahnbürste in den gelben Sack? Und das Wattestäbchen hier? Die Shampooflasche aber schon, oder?“ Wer im Landkreis Euskirchen wohnt, hat diese Fragen wahrscheinlich schon gehört – im Radio. Denn so begann im April vergangenen Jahres die Testkampagne „Mülltrennung wirkt!“, mit der die Euskirchener zur besseren Mülltrennung erzogen werden sollten. Nun soll die lokale Aktion im ganzen Land ausgerollt werden.

Ist das nötig? 95 Prozent der Bevölkerung geben doch in Umfragen an, den Müll zu trennen. Kommunen verteilen Infoflyer zum Abfallwesen in 13 Sprachen. Die deutsche Abfallindustrie feiert sich als Recycling-Weltmeister. Alle hassen Plastik.

Andererseits: Alle kaufen Plastik. Und von der viel beschworenen Kreislaufwirtschaft ist Deutschland weit entfernt. Neu-Plastik besteht nur zu rund zwölf Prozent aus Recyclingmaterial. Und vor einigen Wochen vermeldete das Umweltbundesamt: Die Menge an Verpackungsmüll in Deutschland ist mal wieder angestiegen, auf nunmehr 226 Kilo pro Kopf, 23 Prozent mehr als im Jahr 2000. Die Hälfte davon fällt in Privathaushalten an. Und dort geraten Verpackungen, Restmüll und Küchenabfälle oft durcheinander. In den gelben Säcken und Tonnen landen 40 bis 60 Prozent Fehlwürfe, klagt die Entsorgungsbranche.

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Der Traum von Null Müll

SWR2

Die Deutschen fühlen sich als Mülltrennungsweltmeister, aber von einer Kreislaufwirtschaft ist das Land weit entfernt. Neue Gesetze und neue Sortieranlagen sollen die Recyclingquoten verbessern. Wie realistisch ist der Traum von „Zero Waste“?

Der Joghurtbecher aus Plastik, Aluminium und Papier, er ist in Deutschland nicht nur eine Verpackung. Er ist ein Symbol. Ein Symbol für das gut gemeinte deutsche Mülltrennungswesen, das oft wie ein Schildbürgerstreich wirkt. Einen leeren Joghurtbecher korrekt wegzuwerfen ist eine Wissenschaft für sich. 

Doch die Mülltrennungsmoral sinkt. Verpackungen, Restmüll und Küchenabfälle geraten durcheinander. Von der viel beschworenen Kreislaufwirtschaft ist Deutschland weit entfernt. Etwa die Hälfte der Haushaltsabfälle landet in der Verbrennung. Fast eine Million Tonnen Altplastik wurden bis vor kurzem nach China exportiert

Wasserwahnsinn

Die Zeit

Was bringt Menschen dazu, Wasser in Flaschen kistenweise in ihre Wohnungen zu schleppen und 400-mal so viel dafür auszugeben wie für das einwandfreie Trinkwasser, das sich bequem aus der Leitung zapfen lässt? Warum zahlen wir für Wasser aus Norwegen, Tasmanien und Südafrika in Designerflakons noch einmal ein Mehrfaches des Preises von einheimischem Mineralwasser, wenn wir noch nicht einmal den Unterschied schmecken können? Warum ernten wir im Restaurant verächtliche Blicke, wenn wir ein Glas Leitungswasser bestellen?

Während unser Trinkwasser immer besser geworden ist, hat sich der Verbrauch von Flaschenwasser in Deutschland in den vergangenen 40 Jahren verzehnfacht. Ein Wohlstandsphänomen und ein Beispiel für gelungenes Marketing. Aber das Wasser aus Glas- und PET-Flasche belastet die Umwelt tausendmal so stark wie die Erfrischung aus dem Hahn.

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